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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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jeden Gefühls wieder. Sie empfand reine Freude, wie über einen süßen Geschmack oder eine Blume, weil noch ein Mensch lebte, der ihren Namen kannte, und weil es dieser Mann war.
    Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Lieg still. Laß mich weitermachen.« Er gehorchte und schlief bald wieder ein, diesmal mit geöffneten, entspannten Händen.
    Als sie später in der Nacht neben Therru einschlief, dachte sie: Aber ich habe ihn vorher nie geküßt. Die Erkenntnis erschütterte sie. Zuerst glaubte sie es nicht. Während der vielen Jahre war doch sicherlich … Nicht in den Gräbern, aber danach, als sie gemeinsam im Gebirge unterwegs waren … Auf der Weitblick , als sie zusammen nach Havnor segelten … Als er sie hierher nach Gont brachte …?
    Nein. Ogion hatte sie ebenfalls nie geküßt – und sie ihn auch nicht. Er hatte sie Tochter genannt und sie geliebt, aber er hatte sie nicht berührt; und sie, die als einsame, unberührte Priesterin, als etwas Heiliges, erzogen worden war, hatte keine Berührung gesucht oder nicht gewußt, daß sie sie suchte. Manchmal legte sie Stirn oder Wange einen Augenblick lang auf Ogions offene Hand, und er strich ihr vielleicht über die Haare, einmal, sehr leicht.
    Ged hatte nicht einmal das getan.
    Habe ich nie daran gedacht? fragte sie sich voll ungläubiger Ehrfurcht.
    Sie wußte es nicht. Während sie daran zu denken versuchte, überkam sie heftiges Entsetzen, das Gefühl eines Vergehens, und erstarb dann, bedeutungslos. Ihre Lippen kannten die leicht rauhe, trockene, kühle Haut seiner rechten Wange in der Nähe des Mundes, und nur dieses Wissen war von Bedeutung, hatte Gewicht.
    Sie schlief. Sie träumte, daß eine Stimme sie »Tenar! Tenar!« rief und daß sie antwortete, wie ein Meeresvogel rief, im Licht über das Meer flog; aber sie wußte nicht, welchen Namen sie rief.
    Sperber enttäuschte Tantchen Moor. Er blieb am Leben. Nach einem Tag oder nach zwei Tagen gab sie ihn als gerettet auf. Sie kam und fütterte ihn mit ihrer Brühe aus Ziegenfleisch, Wurzeln und Kräutern, lehnte ihn an sich, umgab ihn mit dem starken Geruch ihres Körpers, löffelte Leben in ihn hinein und murrte. Obwohl er sie wiedererkannt und sie mit ihrem Gebrauchs-Namen angesprochen hatte und obwohl sie nicht leugnen konnte, daß er anscheinend der Mann namens Sperber war, wollte sie es nicht wahrhaben. Sie mochte ihn nicht. Er war ganz verkehrt, behauptete sie. Tenar schätzte die Klugheit der Hexe so sehr, daß dies sie beunruhigte, aber sie fand in sich keinen solchen Verdacht, nur die Freude darüber, daß er hier war und daß er langsam ins Leben zurückkehrte. »Wenn er wieder er selbst ist, wirst du schon sehen«, sagte sie zu der alten Moor.
    »Er selbst!« wiederholte die Hexe und machte mit den Fingern eine Bewegung, als bräche sie eine Nußschale auf und ließe sie fallen.
    Er fragte sehr bald nach Ogion. Tenar hatte diese Frage gefürchtet. Sie hatte sich gesagt und sich beinahe selbst eingeredet, daß er nicht fragen werde, daß er es so wisse, wie es die Magier wissen, wie es sogar die Zauberer von Gonthafen und Re Albi gewußt hatten, als Ogion starb. Aber am vierten Morgen war er wach; als sie zu ihm kam, blickte zu ihr auf und stellte fest: »Dies ist Ogions Haus.«
    »Aihals Haus«, sagte sie so leichthin, wie es ihr möglich war; es fiel ihr noch immer nicht leicht, den wahren Namen des Magiers auszusprechen. Sie wußte nicht, ob Ged den Namen gekannt hatte. Er hatte ihn sicherlich gekannt. Ogion hatte es ihm bestimmt erzählt, oder es war nicht nötig gewesen, daß er es ihm erzählte.
    Er reagierte eine Weile nicht, und als er sprach, geschah es ausdruckslos. »Dann ist er tot.«
    »Seit zehn Tagen.«
    Er sah vor sich hin, als überlege er, versuche, etwas zu Ende zu denken.
    »Wann bin ich hierhergekommen?«
    Sie mußte sich nahe zu ihm beugen, um ihn zu verstehen.
    »Vor vier Tagen, am Abend.«
    »Außer mir war niemand in den Bergen«, erklärte er. Dann zuckte sein Körper zusammen und erschauerte, als leide er Schmerzen oder erinnere sich an unerträglichen Schmerz. Er schloß stirnrunzelnd die Augen und holte tief Luft.
    Als er seine Kraft allmählich wiedergewann, wurden Tenar dieses Stirnrunzeln, der angehaltene Atem und die geballten Hände vertraut. Seine Kraft kehrte zurück, aber nicht seine Ruhe, seine Gesundheit.
    Er saß im Sonnenschein des Sommernachmittags auf der Schwelle des Hauses. Es war die längste Wanderung, die er bis jetzt vom Bett

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