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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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zwischen Thalmund, Oranéa und Nordhavnor Handel trieb. Von Zeit zu Zeit kam er auf den Hof, aber nicht oft und nie für lange, obwohl er beim Tod seines Vaters ihm gehören würde. Er war weißhäutig wie Tenar, wurde aber groß, so wie Flint, und hatte ein schmales Gesicht. Er verriet den Eltern seinen wahren Namen nicht. Vielleicht würde er ihn nie jemandem verraten. Tenar hatte ihn zum letztenmal vor drei Jahren gesehen. Vielleicht wußte er vom Tod seines Vaters, vielleicht auch nicht. Vielleicht war auch er tot, ertrunken, aber das glaubte sie nicht. Er würde den Funken, sein Leben, über das Wasser, durch die Stürme tragen.
    So war jetzt etwas in ihr, ein Funke; wie die körperliche Gewißheit einer Empfängnis; eine Veränderung, etwas Neues. Sie wollte nicht fragen, was es war. Man fragte nicht. Man fragte nicht nach einem wahren Namen. Er wurde einem gegeben oder nicht.
    Sie stand auf und kleidete sich an. Es war zwar zeitig, aber es war warm, und sie machte kein Feuer. Sie saß in der Tür, trank eine Tasse Milch und sah zu, wie der Schatten des Berg Gont vom Meer landeinwärts zog. Der Wind wehte auf der luftumwehten Felsplatte so schwach, wie es nur möglich war, und die Brise fühlte sich nach Hochsommer an – weich und üppig, mit dem Duft der Wiesen. In der Luft lag Süße, eine Veränderung.
    »Alles hat sich verändert!« hatte der alte Mann sterbend voll Freude geflüstert. Hatte seine Hand auf die ihre gelegt, hatte ihr das Geschenk gegeben, seinen Namen, hatte ihn hergegeben.
    »Aihal!« flüsterte sie. Als Antwort meckerten hinter dem Melkschuppen zwei Ziegen, die darauf warteten, daß Heide käme. »Meh-eh« sagte die eine, und die andere sagte tiefer, metallisch: »Blah-ah! Blah-ah!« Man kann sich darauf verlassen, daß eine Ziege alles verdirbt, pflegte Flint zu sagen. Flint, ein Schafhirte, hatte Ziegen nicht gemocht. Aber Sperber war als Junge hier auf den Bergen Ziegenhirt gewesen.
    Sie ging hinein. Therru stand bei dem schlafenden Mann und betrachtete ihn. Tenar legte dem Kind den Arm um die Schultern, und obwohl Therru für gewöhnlich vor einer Berührung oder Liebkosung zurückwich oder unbeteiligt blieb, nahm sie sie diesmal hin und drückte sich vielleicht sogar ein wenig an Tenar.
    Ged lag noch immer in dem gleichen erschöpften, überwältigenden Schlaf. Sein Gesicht war ihnen zugewandt, und sie sahen die vier weißen Narben, die es kennzeichneten.
    »Ist er verbrannt worden?« flüsterte Therru.
    Tenar antwortete nicht sofort. Sie wußte nicht, woher die Narben rührten. Sie hatte ihn vor langer Zeit im Gemalten Raum des Labyrinths von Atuan höhnisch gefragt: ›Ein Drache?‹ Er hatte ernsthaft geantwortet: ›Kein Drache. Einer von den Namenlosen; aber ich habe seinen Namen erfahren …‹ Das war alles, was sie wußte. Aber sie wußte, was ›verbrannt‹ für das Kind bedeutete.
    »Ja«, antwortete sie.
    Therru sah ihn weiterhin an. Sie hatte den Kopf schiefgelegt, um ihr sehendes Auge zu gebrauchen, und sie sah aus wie ein kleiner Vogel, ein Spatz oder ein Fink.
    »Komm jetzt, Finklein, Vögelchen, er braucht Schlaf, du brauchst einen Pfirsich. Gibt es heute morgen einen reifen Pfirsich?«
    Therru lief hinaus, um nachzusehen, und Tenar folgte ihr.
    Während das Kind den Pfirsich aß, musterte es die Stelle, an der es gestern den Pfirsichkern gepflanzt hatte. Sie war offensichtlich enttäuscht, daß dort kein Baum gewachsen war, aber sie sagte nichts.
    »Gieß ihn«, riet ihr Tenar.
    Die alte Moor traf um die Mitte des Vormittags ein. Eine ihrer Fertigkeiten als Hexe und Mädchen für alles war Korbflechten. Sie verwendete dazu die Binsen des Oberfell-Moors, und Tenar hatte sie gebeten, ihr diese Kunst beizubringen. Tenar hatte als Kind in Atuan gelernt, wie man lernt. Als Fremde in Gont hatte sie festgestellt, daß die Leute gern lehrten. Sie hatte gelernt, sich unterrichten zu lassen und dadurch angenommen zu werden, weil man ihr die Fremdartigkeit vergab.
    Ogion hatte ihr sein Wissen beigebracht, und dann hatte Flint ihre das seine beigebracht. Lernen war ihr zur Lebensgewohnheit geworden. Es gab immer sehr viel zu lernen, mehr, als sie als Priesterin-Lehrling oder Schülerin eines Magiers vermutet hatte.
    Die Binsen waren eingeweicht worden, und an diesem Morgen mußte man sie spalten, was anstrengend, aber nicht schwierig war und die Aufmerksamkeit nicht voll in Anspruch nahm.
    »Tantchen«, begann Tenar, als sie auf der Schwelle saßen, eine Schüssel mit

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