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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Spültuch abhängen könne.
    Niemand aus Rok kam, um ihn zu holen. In der Zeit, als sie darüber sprachen, hätte es nur ein Schiff schaffen können, dessen Segel der magische Wind auf der gesamten Strecke schwellte; aber die Tage vergingen, und noch immer traf keine Botschaft und kein Zeichen ein. Es kam ihr merkwürdig vor, daß sie ihren Obersten Magier so lange in Ruhe ließen. Wahrscheinlich hatte er ihnen verboten, jemanden zu ihm zu schicken; oder er hatte sich vielleicht dank seiner Zauberkunst hier versteckt, damit sie nicht wußten, wo er sich befand, und damit man ihn nicht erkannte. Denn die Dorfbewohner kümmerten sich noch immer auffallend wenig um ihn.
    Daß niemand vom Haus der Herren von Re Albi heruntergekommen war, war weniger überraschend. Die Herren dieses Hauses hatten sich nie gut mit Ogion vertragen. Im Dorf hieß es, daß Frauen des Hauses der dunklen Künste kundig gewesen seien. Angeblich hatte eine von ihnen einen Herrn im Norden geheiratet, der sie lebend unter einem Stein begrub; eine andere hatte sich an dem ungeborenen Kind in ihrem Leib zu schaffen gemacht, um es zu einem Geschöpf der Macht zu machen, und als es zur Welt kam, hatte es tatsächlich Worte gesprochen, aber es hatte keine Knochen. »Wie ein kleiner Sack aus Haut«, flüsterte die Hebamme im Dorf, »ein kleiner Sack mit Augen und einer Stimme, und es trank nie, sondern es sprach in einer fremden Sprache und starb …« Unabhängig davon, ob diese Geschichten stimmten, hatten die Fürsten von Re Albi immer Abstand gewahrt. Man hätte annehmen können, daß Tenar, als sie zum erstenmal als Gefährtin des Magiers Sperber und als Schützling des Magiers Ogion nach Re Albi kam und den Ring von Erreth-Akbe nach Havnor brachte, aufgefordert worden wäre, im Herrenhaus zu wohnen; aber das geschah nicht. Sie hatte statt dessen zu ihrem Entzücken allein in einer winzigen Hütte gelebt, die dem Dorfweber Fan gehörte; sie erblickte die Leute aus dem großen Haus selten und nur von fern. Es gab keine Hausherrin, erzählte ihr die alte Moor, nur den alten, sehr alten Herrn, seinen Enkel und den jungen Zauberer Aspen, den man von der Schule auf Rok in Dienst genommen hatte.
    Tenar hatte Aspen zum letztenmal gesehen, als Ogion mit Tantchen Moors Talisman in der Hand unter der Buche am Bergpfad begraben worden war. Obwohl es merkwürdig schien, wußte er entweder nicht, daß sich der Oberste Magier von Erdsee in seinem Dorf befand, oder er blieb aus einem unbekannten Grund fern. Der Zauberer von Gonthafen, der ebenfalls gekommen war, um Ogion zu begraben, war auch nicht wiedergekommen. Selbst wenn er nicht wußte, daß Ged hier war, war ihm sicherlich bekannt, wer sie war, die Weiße Dame, die den Ring von Erreth-Akbe am Handgelenk getragen hatte, die die Rune des Friedens ergänzt hatte … Und wie viele Jahre ist das her, alte Frau! sagte sie sich. Bist du ganz von Sinnen?
    Dennoch war sie es gewesen, die ihnen Ogions wahren Namen verraten hatte. Ein wenig Höflichkeit waren sie ihr schon schuldig.
    Doch Zauberern war Höflichkeit fremd. Sie waren Männer der Macht. Sie hatten nur mit Macht zu tun. Und welche Macht besaß sie jetzt? Welche Macht hatte sie je besessen? Als Mädchen, als Priesterin war sie ein Gefäß gewesen: Die Macht der dunklen Orte war durch sie geflossen, hatte sie benutzt, sie leer, unberührt zurückgelassen. Als junge Frau hatte ein mächtiger Mann ihr mächtiges Wissen vermittelt, und sie hatte es beiseite gelegt, sich von ihm abgewandt, es nicht angerührt. Als Frau hatte sie zur rechten Zeit die Macht einer Frau gewählt und besessen, und die Zeit war vorbei; ihre Zeit als Ehefrau und Mutter lag hinter ihr. In ihr gab es nichts, keine Macht, die irgendwer erkennen konnte.
    Doch ein Drache hatte zu ihr gesprochen. »Ich bin Kalessin«, hatte er gesagt, und sie hatte geantwortet: »Ich bin Tenar.«
    »Was ist ein Drachenherr?« hatte sie Ged an dem dunklen Ort gefragt, dem Labyrinth, hatte versucht, seine Macht zu bestreiten, ihn dazu zu bringen, die ihre anzuerkennen; und er hatte mit jener schlichten Ehrlichkeit geantwortet, die sie immer entwaffnete: »Ein Mann, zu dem Drachen sprechen.«
    Sie war also eine Frau, zu der Drachen sprachen. War das das Neue, das noch nicht enthüllte Wissen, der Lichtsame, den sie in sich fühlte, wenn sie unter dem nach Westen blickenden kleinen Fenster erwachte?
    Einige Tage nach dem kurzen Gespräch bei Tisch jätete sie Ogions Garten und rettete die Zwiebeln, die sie im

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