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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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aus unternommen hatte. Er saß auf der Schwelle, blickte in den Tag hinaus, und Tenar, die vom Bohnenbeet her um die Hausecke kam, betrachtete ihn. Er wirkte immer noch aschgrau, schattenhaft. Es waren nicht nur die grauen Haare, sondern es war etwas in der Beschaffenheit von Haut und Knochen, und aus mehr bestand er nicht. In seinen Augen war kein Licht. Doch dieser aschfahle Mann, dieser Schatten, war der gleiche, den sie einst in seiner strahlenden Macht gesehen hatte – das starke Gesicht mit der Adlernase und dem schönen Mund, ein gutaussehender Mann. Er war immer ein stolzer, gutaussehender Mann gewesen.
    Sie trat zu ihm.
    »Du brauchst vor allem den Sonnenschein«, sagte sie, und er nickte, aber während er in der Flut der Sommerwärme saß, hatte er die Hände geballt.
    Er war so still, daß sie dachte, ihre Anwesenheit störe ihn vielleicht. Womöglich konnte er sich bei ihr nicht so wohl fühlen wie früher. Schließlich war er jetzt Oberster Magier – sie vergaß es immer wieder. Und es waren fünfundzwanzig Jahre vergangen, seit sie in den Bergen von Atuan gewandert und zusammen auf der Weitblick über das östliche Meer gesegelt waren.
    »Wo befindet sich die Weitblick ?« fragte sie plötzlich; der Gedanke daran hatte sie überrascht, und dann dachte sie: Wie dumm von mir! Es liegt so viele Jahre zurück, und er ist Oberster Magier und hat das kleine Boot jetzt sicherlich nicht mehr.
    »In Selidor«, erwiderte er; sein Gesicht war in gleichbleibendem unverständlichem Elend erstarrt.
    So lange her wie ewig, so weit entfernt wie Selidor …
    »Die fernste Insel«, sagte sie; es war eine halbe Frage.
    »Die fernste im Westen«, antwortete er.
    Sie saßen nach dem Abendessen am Tisch. Therru war hinausgegangen, um zu spielen.
    »Du bist also auf Kalessin aus Selidor gekommen?«
    Als sie den Namen des Drachen wieder nannte, sprach dieser sich selbst, formte ihren Mund zu dem Wort und seinem Klang, verwandelte ihren Atem in sanftes Feuer.
    Bei dem Namen blickte Ged sie an, ein ausdrucksvoller Blick, und ihr wurde klar, daß er ihr für gewöhnlich nie in die Augen sah. Er nickte. Dann stellte er seine Zustimmung schwerfällig, aber ehrlich richtig: »Von Selidor nach Rok. Und dann von Rok nach Gont.«
    Tausend Meilen? Zehntausend Meilen? Sie hatte keine Ahnung. Sie hatte die großen Landkarten in der Schatzkammer von Havnor gesehen, aber niemand hatte ihr Zahlen, Entfernungen beigebracht. So weit entfernt wie Selidor … War der Flug eines Drachen in Meilen zu messen?
    »Ged.« Da sie allein waren, verwendete sie seinen wahren Namen. »Ich weiß, daß du große Schmerzen und Gefahren erduldet hast. Wenn du nicht willst … Vielleicht kannst du es nicht, vielleicht solltest du es mir nicht erzählen – aber wenn ich es wüßte, wenn ich etwas davon wüßte, könnte ich dir vielleicht eine größere Hilfe sein. Ich möchte es gern sein. Sie werden bald aus Rok kommen, um dich zu holen, werden ein Schiff für den Obersten Magier schicken, was weiß ich, werden einen Drachen für dich schicken! Du wirst wieder fort sein. Und wir werden nie miteinander geredet haben.« Während sie sprach, ballte sie die Hände, weil ihr Ton und ihre Worte so falsch klangen. Über den Drachen scherzen – quengeln wie eine vorwurfsvolle Ehefrau.
    Er blickte mürrisch, geduldig auf den Tisch, wie ein Bauer, der nach einem schweren Tag auf den Feldern ein häusliches Gewitter über sich ergehen läßt.
    »Ich glaube nicht, daß jemand aus Rok kommen wird«, antwortete er, und es war für ihn eine solche Anstrengung, daß er erst nach einer Weile fortfuhr. »Gib mir Zeit.«
    Sie glaubte, daß das alles war, was er sagen würde, und antwortete: »Ja, natürlich. Entschuldige.« Sie wollte aufstehen, um den Tisch abzuräumen, als er, noch immer zu Boden blickend, undeutlich sagte: »Ich habe das, jetzt.«
    Dann stand er ebenfalls auf, brachte seinen Teller zur Spüle und räumte den Tisch vollends ab. Während Tenar die Reste der Mahlzeit wegtrug, spülte er das Geschirr. Das fiel ihr auf. Sie hatte ihn mit Flint verglichen; aber Flint hatte in seinem ganzen Leben keinen Teller gespült. Frauenarbeit. Doch Ged und Ogion hatten als Junggesellen hier gelebt, ohne Frauen; dort wo Ged gelebt hatte, hatte es keine Frauen gegeben; deshalb besorgte er ›Frauenarbeit‹, ohne sich etwas dabei zu denken. Es wäre ein Jammer, dachte sie, wenn er darüber nachdächte, wenn er allmählich befürchten würde, daß seine Würde von einem

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