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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Wurzel des Unkrauts in dem rauhen Boden, im Dunkel der Erde zu finden.
    »Goha«, sagte Therrus schwache, gesprungene Stimme am Tor, und Tenar drehte sich um. Das Halbgesicht des Kindes sah sie mit dem sehenden und dem geblendeten Auge an. Soll ich ihr erzählen, daß es in Havnor einen König gibt? fragte sich Tenar.
    Sie stand auf und trat zum Tor, damit Therru nicht gezwungen war, sich Gehör zu verschaffen. Als sie bewußtlos im Feuer lag, atmete sie Feuer, sagte Bucher. »Ihre Stimme ist verbrannt«, erklärte er.
    »Ich habe auf Sippy aufgepaßt«, flüsterte Therru, »aber sie ist aus der Geißkleeweide entkommen. Ich kann sie nicht finden.«
    Es war die längste Rede, die sie je gehalten hatte. Sie zitterte, weil sie gelaufen war und weil sie versuchte, nicht zu weinen. Wir können nicht alle gleichzeitig weinen, sagte sich Tenar. Das ist dumm, das darf nicht sein! Sie drehte sich um. »Sperber, eine Ziege ist davongelaufen.«
    Er stand sofort auf und kam zum Tor.
    »Versuch es beim Quellhaus«, riet er.
    Er blickte das Kind an, als sähe er die gräßlichen Narben nicht, als sähe er es kaum: ein Kind, das eine Ziege verloren hatte, das eine Ziege finden mußte. Er sah die Ziege. »Oder sie ist zu der Dorfherde gelaufen«, fügte er hinzu.
    Therru lief bereits zum Quellhaus.
    »Ist sie deine Tochter?« fragte er Tenar. Er hatte nie zuvor ein Wort über das Kind gesagt, und Tenar konnte in diesem Augenblick nur denken, wie überaus seltsam sich Männer verhielten.
    »Nein, auch nicht meine Enkelin. Aber mein Kind«, antwortete sie. Was trieb sie dazu, wieder höhnische Bemerkungen zu machen, ihn zu verspotten?
    Er trat in dem Augenblick durch das Tor, da Sippy auf sie zurannte, ein braun-weißer Blitz, dem weit hinten Therru folgte.
    »Hi!« rief Ged plötzlich, versperrte der Ziege mit einem Sprung den Weg und trieb sie direkt in das offene Tor und Tenars Arme, der es gelang, Sippys lockeres Lederhalsband zu fassen. Die Ziege blieb sofort sanft wie ein Lamm stehen und sah mit einem gelben Auge Tenar und mit dem anderen die Zwiebelreihen an.
    »Hinaus«, sagte Tenar und führte sie aus dem Ziegenhimmel hinüber auf die steinigere Weide, auf die sie gehörte.
    Ged setzte sich genauso atemlos wie Therru auf den Boden, oder vielleicht war er noch atemloser, denn er keuchte, und ihm schwindelte offensichtlich; aber er weinte wenigstens nicht. Man kann sich darauf verlassen, daß eine Ziege alles verdirbt.
    »Heide hätte dich nicht beauftragen dürfen, Sippy zu hüten«, sagte Tenar zu Therru. »Niemand kann Sippy hüten. Wenn sie wieder wegläuft, erzähl es Heide und mach dir keine Sorgen. Ist es gut so?«
    Therru nickte. Sie sah Ged an. Sie schenkte Menschen, und erst recht Männern, sehr selten mehr als einen Blick; aber sie betrachtete ihn unverwandt und hatte den Kopf schiefgelegt wie ein Spatz. Wurde ein Held geboren?

Verschlechterung
    DIE SONNENWENDE LAG über einen Monat zurück, aber an der Westflanke des Oberfells waren die Abende noch immer lang. Therru hatte den ganzen Tag lang mit Tantchen Moor Kräuter gesucht, war spät zurückgekommen und zu müde gewesen, um zu essen. Tenar brachte sie zu Bett, setzte sich zu ihr und sang ihr vor. Wenn Therru übermüdet war, konnte sie nicht schlafen, sondern kauerte wie ein gelähmtes Tier in ihrem Bett und wurde von Halluzinationen heimgesucht, bis sie sich in einem alptraumhaften Zustand befand, weder schlief noch wachte und unerreichbar war. Tenar hatte herausgefunden, daß sie diesen Zustand verhindern konnte, wenn sie das Kind in den Armen hielt und es in Schlaf sang. Wenn ihr die Lieder ausgingen, die sie als Frau eines Bauern im Mitteltal gelernt hatte, sang sie endlose kargische Weisen, die sie als Kind-Priesterin bei den Gräbern von Atuan gelernt hatte. Sie schläferte Therru mit dem eintönigen Singsang und den sanften Klagen ein, die einst die Opfer für die Namenlosen Mächte und den Leeren Thron begleitet hatten, der jetzt mit dem Staub und den Trümmern des Erdbebens gefüllt war. Sie spürte in diesen Liedern nur die Macht des Liedes an sich; und sie sang gern in ihrer eigenen Sprache, obwohl sie die Lieder nicht kannte, die eine Mutter in Atuan ihrem Kind vorsang, die Lieder, die ihre Mutter ihr vorgesungen hatte.
    Therru schlief schließlich tief und fest. Tenar ließ sie vom Schoß ins Bett gleiten und wartete einen Augenblick lang, um sicher zu sein, daß sie weiterschlief. Dann blickte sie sich um, um sich zu vergewissern, daß sie allein

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