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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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war, und legte rasch, beinahe schuldbewußt, aber mit feierlichem Behagen und tiefer Freude ihre schmale, hellhäutige Hand an jene Seite des Kindergesichts, an der das Feuer Auge und Wange zerstört und zerklüftete, strähnige Narben hinterlassen hatte. Unter ihrer Berührung verschwand das alles. Das Fleisch wurde heil, wurde zum runden, weichen, schlafenden Gesicht eines Kindes. Es war, als stelle ihre Berührung die Wirklichkeit wieder her.
    Sie zog die Hand leicht und zögernd zurück und sah den nicht behebbaren Schaden, die Genesung, die nie vollständig sein konnte.
    Sie bückte sich, küßte die Narbe, erhob sich leise und verließ das Haus.
    Die Sonne ging in unermeßlichem perlenschimmerndem Dunst unter. Niemand war in der Nähe. Sperber war wahrscheinlich im Wald unterwegs. Er hatte damit begonnen, regelmäßig Ogions Grab zu besuchen, und hatte Stunden an dem stillen Ort unter der Buche verbracht; als er kräftiger wurde, wanderte er über die Waldwege, die Ogion geliebt hatte. Nahrung besaß offensichtlich keinen Reiz für ihn; Tenar mußte ihn zum Essen auffordern. Er mied Gesellschaft und war nur bestrebt, allein zu bleiben. Therru wäre ihm überallhin gefolgt, und da sie genauso still war wie er, störte sie ihn nicht, aber er war ruhelos, schickte sie bald nach Hause und ging allein weiter; Tenar wußte nie, was er vorhatte. Er kam spät nach Hause, warf sich auf das Bett, um zu schlafen, und war oft schon wieder fort, wenn sie und das Kind erwachten. Sie ließ ihm Brot und Fleisch übrig, damit er es mitnähme.
    Sie sah jetzt, daß er über den Wiesenpfad herabkam, der so lang und hart gewesen war, als sie Ogion geholfen hatte, zum letztenmal hinaufzusteigen. Sperber kam durch die leuchtende Luft, die vom Wind gebeugten Gräser, schritt gleichmäßig aus, war hart wie ein Stein in sein halsstarriges Elend eingeschlossen.
    »Wirst du beim Haus bleiben?« fragte sie ihn aus einiger Entfernung. »Therru schläft. Ich möchte ein bißchen umhergehen.«
    »Ja. Geh nur«, antwortete er, und sie ging weiter und dachte darüber nach, wie gleichgültig ein Mann den Anforderungen gegenüberstand, die eine Frau beherrschten: daß jemand in der Nähe eines schlafenden Kindes sein mußte, daß die Freiheit des einen die Unfreiheit des anderen bedeutete, es sei denn, daß ein sich stets veränderndes, wandlungsfähiges Gleichgewicht erreicht war, das Gleichgewicht eines Körpers, der sich vorwärtsbewegt, wie sie es soeben tat, auf zwei Beinen, erst das eine, dann das andere, und so die bemerkenswerte Kunst des Gehens ausübte. Dann nahmen die dunkelnden Farben des Himmels und die sanfte Beharrlichkeit des Windes ihre Gedanken gefangen. Sie ging ohne gedankliche Bilder weiter, bis sie zu den Sandsteinfelsen kam. Dort blieb sie stehen und sah zu, wie sich die Sonne im friedlichen rosaroten Dunst verlor.
    Sie kniete nieder und fand mit den Augen und dann mit den Fingerspitzen eine lange, flache, undeutliche, bis zum Rand in den Felsen eingekerbte Vertiefung: die Spur von Kalessins Schwanz. Sie folgte ihr immer wieder mit den Fingern, blickte in die Tiefen des Zwielichts, träumte. Einmal sprach sie. Diesmal war der Name kein Feuer in ihrem Mund, sondern zischte und glitt ihr langsam von den Lippen: »Kalessin …«
    Sie blickte nach Osten. Die Gipfel des Berges Gont oberhalb des Waldes waren rot, fingen das Licht auf, das hier unten verschwunden war. Die Farbe verblaßte, während sie zusah. Sie blickte weg, und als sie wieder hinsah, war der Gipfel grau, düster, die bewaldeten Hänge waren dunkel.
    Sie wartete auf den Abendstern. Als er über dem Dunst erstrahlte, ging sie nach Hause.
    Nach Hause, nicht zu ihrem Zuhause. Warum befand sie sich hier in Ogions Haus und nicht in ihrem eigenen Bauernhaus, kümmerte sich um Ogions Ziegen und Zwiebeln und nicht um ihren eigenen Obstgarten und ihre Herden? ›Warte‹, hatte er gesagt, und sie hatte gewartet; der Drache war gekommen; und Ged war jetzt gesund – war gesund genug. Sie hatte ihre Pflicht getan. Sie hatte das Haus gehütet. Sie wurde nicht mehr gebraucht. Es war Zeit, daß sie ging.
    Doch sie konnte nicht daran denken, daß sie diesen hohen Felsen, dieses Falkennest verließ und wieder in die Niederung hinunterstieg, in das mühelose Ackerland, das windlose Binnenland; wenn sie daran dachte, verließ sie der Mut, und ihr Herz wurde traurig. Was war mit dem Traum, den sie hier, unter dem kleinen, nach Westen zeigenden Fenster geträumt hatte? Was war mit

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