Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Frühjahr gepflanzt hatte, vor dem Unkraut des Sommers. Ged trat durch das Tor im hohen Zaun, der die Ziegen fernhielt, und begann am anderen Ende der Reihe zu jäten. Er arbeitete eine Zeitlang, dann setzte er sich und betrachtete seine Hände.
»Gib ihnen Zeit zu heilen«, meinte Tenar sanft.
Er nickte.
Die hohen, von Stangen gestützten Bohnen in der nächsten Reihe blühten. Ihr Duft war sehr süß. Ged hatte die mageren Arme auf die Knie gestützt und starrte in das sonnenbeschienene Wirrwarr von Ranken, Blüten und herabhängenden Bohnenschoten. Sie sprach, während sie arbeitete: »Als Aihal starb, sagte er: ›Alles hat sich verändert …‹ Seit seinem Tod klage ich um ihn, trauere ich um ihn, aber etwas hellt meinen Kummer auf. Etwas wird geboren werden – ist freigesetzt worden. Ich weiß es im Schlaf und wenn ich erwache – etwas hat sich verändert.«
»Ja«, bestätigte er, »etwas Böses ist zu Ende gegangen. Und …«
Nach langem Schweigen begann er wieder. Er sah sie nicht an, aber seine Stimme klang zum erstenmal wie die Stimme, an die sie sich erinnerte, ruhig, leise, mit dem trockenen gontischen Tonfall.
»Erinnerst du dich daran, Tenar, wie wir das erste Mal nach Havnor kamen?«
Kann ich es vergessen? fragte ihr Herz, aber sie schwieg, damit sie ihn nicht wieder ins Schweigen trieb.
»Wir hatten die Weitblick in den Hafen gebracht und stiegen den Kai hinauf – die Stufen sind aus Marmor. Die Menschen, alle diese Menschen – und du hobst die Hand, um ihnen den Ring zu zeigen …«
… Ich hielt deine Hand; ich war unsagbar entsetzt: Die Gesichter, die Stimmen, die Farben, die Türme, die Fahnen und Banner, das Gold und Silber, die Musik und alles, was ich kannte, warst du – in der ganzen Welt warst du das einzige, das ich kannte, warst neben mir, als wir gingen …
»Die Haushofmeister des Königshauses führten uns durch die Straßen voller Menschen zum Fuß des Turms von Erreth-Akbe. Wir stiegen die hohen Stufen hinauf, wir beide allein. Erinnerst du dich?«
Sie nickte. Sie legte die Hände auf die Erde, die sie gejätet hatte, und fühlte die körnige Kühle.
»Ich öffnete die Tür. Sie war schwer, sie klemmte zuerst. Wir gingen hinein. Erinnerst du dich?«
Es war, als bitte er um Bestätigung. Geschah es? Erinnere ich mich?
»Es war eine große hohe Halle«, sagte sie. »Sie erinnerte mich an meine Halle, in der ich verzehrt wurde, aber nur deshalb, weil sie so hoch war. Das Licht fiel aus Fenstern weit oben im Turm. Sonnenstrahlen, die einander kreuzten wie Schwerter.«
»Und der Thron«, sagte er.
»Der Thron, ja, ganz in Gold und Rot. Aber leer. Wie der Thron in der Halle in Atuan.«
»Jetzt nicht.« Er blickte über die grünen Zwiebelschößlinge hinweg zu ihr herüber. Sein Gesicht wirkte angespannt, sehnsüchtig, als spräche er von einer Freude, die er nicht fassen konnte. »Es gibt einen König in Havnor, in der Mitte der Welt. Was vorhergesagt wurde, hat sich erfüllt. Die Rune ist geheilt, und die Welt ist ganz. Die Tage des Friedens sind gekommen. Er …«
Er unterbrach sich, blickte zu Boden und ballte die Fäuste.
»Er trug mich vom Tod ins Leben. Arren von Enlad. Der Lebannen der Lieder, die gesungen werden müssen. Er hat seinen wahren Namen angenommen, Lebann, König von Erdsee.«
»Das ist es also«, fragte sie kniend, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »die Freude, das Ins-Licht-Treten?«
Er antwortete nicht.
Ein König in Havnor, dachte sie und sprach es aus: »Ein König in Havnor!«
In ihr entstand die Vision der schönen Stadt, der breiten Straßen, der Türme aus Marmor, der Dächer aus Ziegel und Bronze, der Schiffe mit den weißen Segeln im Hafen, des wunderbaren Thronsaals, in der das Sonnenlicht wie Schwerter hinabfiel, des Reichtums, der Würde und der Harmonie, der Ordnung, die dort herrschte. Sie sah, wie sich die Ordnung von diesem strahlenden Mittelpunkt aus verbreitete wie vollkommene Ringe im Wasser, wie die Geradlinigkeit einer gepflasterten Straße oder eines Schiffs, das vor dem Wind segelt: Es ging den Weg, den es gehen sollte, es führte zum Frieden.
»Du hast es gut gemacht, teurer Freund«, sagte sie.
Er machte eine kleine Bewegung, als wolle er sie am Sprechen hindern, wandte sich ab und drückte die Hand auf den Mund. Sie ertrug es nicht, seine Tränen zu sehen, und beugte sich über ihre Arbeit. Sie zog ein Unkraut heraus und dann das nächste, und die zähe Wurzel riß ab. Sie grub mit den Händen, um die
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