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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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was los war. Ich hätte sie wie eine Herde Schafe nach Thalmund treiben können. Oder denk an das Feuerwerk, das ich gestern nacht hier hätte auslösen können! Sie hätten nie erfahren, was sie getroffen hat.«
    »Sie wissen es noch immer nicht«, warf sie ein.
    Er sah sie an. In seinen Augen lag ein schwaches, nicht zu unterdrückendes, triumphierendes Leuchten.
    »Nein, sie wissen es nicht«, bestätigte er.
    »Mit einer Mistgabel umgehen«, murmelte sie.
    Er gähnte ausgiebig.
    »Geh doch zu Bett und schlaf ein wenig. Der zweite Raum im Korridor. Es sei denn, du willst dich unterhalten. Ich sehe Lerche, Bellis und einige Kinder kommen.« Sie hatte Stimmen gehört, war aufgestanden und sah zum Fenster hinaus.
    »Das will ich tun.« Damit zog er sich zurück.
    Wie Ged prophezeit hatte, kamen im Lauf des Tages Lerche und ihr Mann, die Frau des Schmieds, Bellis und andere Freunde aus dem Dorf vorbei, um zu erzählen und um alles zu erfahren. Ihre Gesellschaft belebte Tenar, lenkte sie nach und nach von dem ständig vorhandenen Entsetzen der vergangenen Nacht ab, bis sie es allmählich als etwas betrachten konnte, das geschehen war, nicht als etwas, das immer nur ihr zustieß.
    Das ist es auch, was Therru lernen muß, dachte sie, aber nicht durch eine Nacht: durch ihr Leben. Als die anderen fort waren, sagte sie zu Lerche: »Ich bin wütend auf mich, weil ich so dumm war.«
    »Ich habe dir gesagt, daß du das Haus abschließen sollst.«
    »Nein … vielleicht … Genau das ist es.«
    »Ich weiß«, sagte Lerche.
    »Aber ich meine, als sie hier waren … Ich hätte hinauslaufen und Shandy und Reinbach holen können … Vielleicht hätte ich Therru mitnehmen können. Oder ich wäre in den Schuppen gelaufen und hätte selbst die Mistgabel herausgeholt. Oder das Baummesser. Es ist zwei Meter lang, und die Klinge ist rasiermesserscharf; ich halte es so instand, wie Flint es immer tat. Warum habe ich es nicht getan? Warum habe ich nicht irgend etwas getan? Warum habe ich mich einfach eingesperrt, als hätte es keinen Sinn gehabt, den Versuch zu wagen? Wenn er … Wenn Falke nicht hiergewesen wäre … Alles, was ich tat, bestand darin, Therru und mich in eine Falle zu sperren. Ich ging schließlich mit dem Fleischmesser zur Tür und schrie sie an. Ich war halb von Sinnen. Doch das hätte sie nicht abgeschreckt.«
    »Ich weiß nicht«, meinte Lerche. »Es war verrückt, aber vielleicht … Ich weiß es nicht. Was konntest du mehr tun, als die Türen zu versperren? Doch es ist, als würden wir unser ganzes Leben lang Türen versperren. Es ist das Haus, in dem wir leben.«
    Sie betrachteten die Steinwände, die Steinböden, den Steinkamin, das sonnige Fenster der Küche des Eichenhofs, Flints Haus.
    »Das Mädchen, die Frau, die sie ermordet haben«, sagte Lerche und sah Tenar pfiffig an, »es war dieselbe.«
    Tenar nickte.
    »Einer von ihnen erzählte mir, daß sie schwanger war. Im vierten oder fünften Monat.«
    Beide schwiegen.
    »Gefangen«, sagte Tenar.
    Lerche lehnte sich zurück, legte die Hände auf den Rock über den dicken Schenkeln, hielt sich gerade, ihr schönes Gesicht war entschlossen. »Angst. Wovor haben wir solche Angst? Warum lassen wir uns von ihnen einreden, daß wir Angst haben? Wovor haben sie Angst?« Sie griff nach dem Strumpf, den sie gestopft hatte, drehte ihn hin und her, schwieg eine Zeitlang; schließlich fragte sie: »Warum haben sie vor uns Angst?«
    Tenar spann und antwortete nicht.
    Therru kam hereingelaufen, und Lerche begrüßte sie: »Da ist meine Süße! Komm, umarme mich, mein Liebling!«
    Therru umarmte sie hastig. »Wer sind die Männer, die sie gefangen haben?« fragte sie mit ihrer heiseren, tonlosen Stimme und blickte von Lerche zu Tenar.
    Tenar hielt ihr Rad an. Sie sprach langsam.
    »Einer war Flinko. Einer war ein Mann namens Rauh. Der Verletzte heißt Hecht.« Sie ließ Therrus Gesicht nicht aus den Augen; sah das Feuer, die rot werdenden Narben. »Die Frau, die sie töteten, hieß Senni, glaube ich.«
    »Sesini«, flüsterte das Kind.
    Tenar nickte.
    »Haben sie sie ganz getötet?«
    Tenar nickte wieder.
    »Lure sagt, daß sie hier waren.«
    Tenar nickte wieder.
    Das Kind sah sich im Raum um, wie es die Frauen getan hatten; aber ihr Blick nahm nichts auf, sah keine Wände.
    »Werdet ihr sie töten?«
    »Sie werden vielleicht gehängt werden.«
    »Tot?«
    »Ja.«
    Therru nickte halb gleichgültig. Sie ging wieder hinaus, zu Lerches Kindern beim Quellhaus.
    Die beiden

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