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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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den Abgründen des Abends, den Tiefen von Luft und dem Licht jenseits der Welt. Gelbe, orangefarbene, orangerote, rote Flammen, Flammenzungen, die Worte, die sie nicht aussprechen konnte.
    »Tenar.«
    »Wir nennen den Stern Tehanu«, sagte sie.
    »Tenar, mein Liebling. Komm. Komm mit mir.«
    Sie saßen nicht am Feuer. Sie waren in der Dunkelheit – im dunklen Korridor. Der dunkle Durchgang. Sie waren schon einmal hier gewesen, hatten einander geführt, waren einander in der Dunkelheit unter der Erde gefolgt.
    »Das ist der Weg«, sagte sie.

Winter
    SIE ERWACHTE UND wollte nicht aufwachen. Durch die Fensterläden schimmerte schwaches Grau. Warum waren die Fensterläden geschlossen? Sie stand eilig auf und lief durch den Korridor in die Küche. Niemand saß am Feuer, niemand lag auf dem Fußboden. Es gab keinen Hinweis auf irgendwen, auf irgend etwas. Außer der Teekanne und den drei Tassen auf der Anrichte.
    Therru stand bei Sonnenaufgang auf, und sie frühstückten wie üblich; als sie abräumten, fragte das Mädchen: »Was ist geschehen?« Sie hob eine Ecke des nassen Lakens aus dem Einweichzuber in der Speisekammer. Das Wasser im Zuber war rötlichbraun und von Fäden und Klumpen durchzogen.
    »Meine Periode ist zu früh gekommen«, antwortete Tenar und erschrak über die Lüge, während sie sie aussprach.
    Therru blieb einen Augenblick lang regungslos stehen, ihre Nasenflügel bebten, und der Kopf bewegte sich nicht, wie bei einem Tier, das eine Fährte aufnimmt. Dann ließ sie das Laken in das Wasser fallen und ging hinaus, um die Hühner zu füttern.
    Tenar fühlte sich elend; die Knochen schmerzten. Das Wetter war noch immer kalt, und sie blieb so häufig wie möglich im Haus. Sie versuchte, Therru bei sich zu behalten, aber als die Sonne herauskam und ein scharfer heller Wind einsetzte, wollte Therru ins Freie.
    »Bleib bei Shandy im Obstgarten!« befahl Tenar.
    Therru schlüpfte hinaus, ohne zu antworten.
    Die verbrannte und entstellte Seite des Gesichts war infolge der zerstörten Muskeln und der dicken Narben steif, aber als die Narben älter wurden und Tenar durch lange Gewohnheit lernte, den Blick nicht von der Entstellung abzuwenden, sondern es als Gesicht zu sehen, hatte diese Seite ihre eigene Art, etwas auszudrücken. Wenn Therru Angst hatte, ›verschloß‹ sich die verbrannte dunklere Seite, wie Tenar es in Gedanken nannte. Wenn sie aufgeregt oder aufmerksam war, schien sogar die blinde Augenhöhle zu schauen, und die Narben wurden rot und fühlten sich heiß an. Als sie jetzt hinausging, sah sie merkwürdig aus, als wäre ihr Gesicht gar nicht menschlich, sondern ein Tier, ein fremdes, hornhäutiges, wildes, schweigend fliehendes Geschöpf mit einem hellen Auge.
    Weil Tenar Therru zum erstenmal belogen hatte, wußte sie, daß Therru ihr zum erstenmal nicht gehorchen würde. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal.
    Sie seufzte, setzte sich müde an den Herd und tat eine Zeitlang überhaupt nichts.
    Jemand klopfte an die Tür: Reinbach und Ged – nein, sie mußte ihn Falk nennen –, Reinbach und Falk standen auf der Schwelle. Der alte Reinbach war voller Neuigkeiten und von seiner Wichtigkeit erfüllt. Ged steckte dunkel, still und unförmig in seinem speckigen Schaffellmantel. »Kommt herein«, forderte sie sie auf. »Ich bringe euch Tee. Was gibt es Neues?«
    »Sie versuchten, nach Thalmund zu entkommen, aber die Männer aus Kahedanan, die Gerichtsbeamten, kamen herunter und fanden sie in Kirschs Abort«, verkündete Reinbach und schüttelte die Faust.
    »Er ist entkommen?« Entsetzen erfaßte sie.
    »Die anderen beiden«, erklärte Ged. »Er nicht.«
    Reinbach fuhr fort. »Sie haben oben in den alten Trümmern auf dem Runden Hügel die Leiche gefunden, beinahe in Stücke geschlagen, oben in den alten Trümmern bei Kahedanan, also haben sich zehn oder zwölf von ihnen an Ort und Stelle zu Gerichtsbeamten ernannt und sind ihnen gefolgt. Vergangene Nacht haben sie alle Dörfer durchsucht, und heute morgen, noch bevor es hell war, fanden sie sie in Kirschs Abort. Sie waren halb erfroren.«
    »Er ist also tot?« fragte sie verwirrt.
    Ged hatte den schweren Mantel abgeworfen und saß auf dem Rohrstuhl neben der Tür, um sich die Ledergamaschen auszuziehen. »Er lebt«, antwortete er ruhig. »Eppich hat ihn. Ich habe ihn heute morgen auf dem Mistkarren zu ihr gebracht. Auf der Straße waren schon vor Tagesanbruch Männer unterwegs, die die drei suchten. Sie haben oben in den Hügeln eine Frau

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