Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
mußte durch Korridore kriechen. Sie konnte nicht schnell genug kriechen und wurde in die Brüste und in den Mund getreten. Dann gab es eine Tür, die zufiel, Stille und Dunkelheit. Sie hörte jemanden weinen und glaubte, daß es das Kind war, ihr Kind. Sie wollte, daß das Kind nicht weinte. Endlich hörte es auf.
Tehanu
DAS KIND WANDTE SICH nach links und ging ein Stück, bevor es zurückblickte und darauf achtete, daß die blühende Hecke es verbarg.
Der eine, der Aspen hieß, dessen Name Erisen war und den sie als gespaltene, sich windende Dunkelheit sah, hatte ihre Mutter und ihren Vater gefesselt, mit einem Riemen durch ihre Zunge und mit einem Riemen durch sein Herz, und führte sie hinauf zu dem Ort, an dem er sich verbarg. Der Geruch des Ortes erweckte Übelkeit in ihr, aber sie folgte ihm ein kurzes Stück, um zu sehen, was er tat. Er führte die beiden hinein und schloß die Tür hinter ihnen. Es war eine Steintür. Dort konnte sie nicht hinein.
Sie hätte fliegen müssen, aber sie konnte nicht fliegen; sie gehörte nicht zu den Geflügelten.
Sie lief, so schnell sie konnte, über die Felder, an Tantchen Moors Haus, an Ogions Haus und an dem Ziegenhaus vorbei, auf den Weg, der am Felsen entlang und zum Rand des Felsens führte; sie sollte nicht dort hingehen, weil sie den Weg nur mit einem Auge sehen konnte. Sie war vorsichtig. Sie schaute sorgfältig mit dem einen Auge. Sie stand am Rand. Das Wasser lag tief unten, und die Sonne ging weit hinten unter. Sie blickte mit dem anderen Auge nach Westen und rief mit der anderen Stimme den Namen, den sie im Traum ihrer Mutter gehört hatte.
Sie wartete nicht auf die Antwort, sondern drehte sich wieder um und ging zurück – zuerst an Ogions Haus vorbei, um zu sehen, ob ihr Pfirsichbaum gewachsen war. Der alte Baum trug viele kleine grüne Pfirsiche, aber von dem Sämling war nichts zu sehen. Die Ziegen hatten ihn gefressen. Oder er war gestorben, weil sie ihn nicht gegossen hatte. Sie blieb eine Weile stehen und betrachtete den Boden, dann holte sie tief Luft und ging über die Felder zu Tantchen Moors Haus zurück.
Hühner saßen auf der Stange, gackerten, flatterten und protestierten dagegen, daß sie hineinging. Die kleine Hütte war dunkel und voll von Gerüchen. »Tantchen Moor?« fragte sie mit der Stimme, die sie für diese Leute hatte.
»Wer ist da?«
Die alte Frau lag in ihrem Bett und versteckte sich. Sie hatte Angst und versuchte, Stein um sich zu errichten, um alle fernzuhalten, aber es gelang nicht; sie war nicht stark genug.
»Wer ist es? Wer ist hier? Ach, Schätzchen, o mein liebes Kind, mein verbranntes Kleines, meine Hübsche, was tust du hier? Wo ist sie, wo ist sie, deine Mutter, ist sie hier? Ist sie gekommen? Komm nicht herein, komm nicht herein, Schätzchen, auf mir liegt ein Fluch, er hat die alte Frau verflucht, komm mir nicht in die Nähe! Komm nicht in die Nähe!«
Sie weinte. Das Kind streckte die Hand aus und berührte sie. »Du bist kalt.«
»Du bist wie Feuer, Kind, deine Hand verbrennt mich. O, sieh mich nicht an! Er ließ mein Fleisch verfaulen und schrumpfen und wieder verfaulen, aber er läßt mich nicht sterben – er hat gesagt, daß ich dich hierherbringen würde. Ich versuchte zu sterben, ich habe es versucht, aber er hielt mich, hielt mich gegen meinen Willen am Leben, er läßt mich nicht sterben, oh, laß mich sterben!«
»Du solltest nicht sterben«, sagte das Kind mit gerunzelter Stirn.
»Kind«, flüsterte die alte Frau, »Schätzchen – nenn mich bei meinem Namen.«
»Hatha«, sagte das Kind.
»Ah. Ich hab es gewußt … Gib mich frei, Schätzchen!«
»Ich muß warten. Bis sie kommen.«
Die Hexe lag ruhiger, atmete ohne Schmerzen. »Bis wer kommt, Schätzchen?« flüsterte sie.
»Mein Volk.«
Die große kalte Hand der Hexe lag wie ein Bund Stäbe in der ihren. Sie hielt sie fest. Jetzt war es außerhalb und innerhalb der Hütte finster. Hatha, die Tantchen Moor genannt wurde, schlief; und dann schlief auch das Kind, das auf dem Boden neben ihrem Bett saß, während in der Nähe eine Henne auf der Stange hockte.
Als das Licht kam, kamen Männer. »Auf, Hündin! Auf!« rief er. Sie erhob sich auf Hände und Knie. Er lachte. »Ganz hinauf! Du bist eine kluge Hündin, du kannst auf den Hinterbeinen gehen, oder? So ist es richtig. Tu, als wärst du menschlich! Wir müssen jetzt einen Weg gehen. Komm!« Der Riemen lag noch um ihren Hals, und er zerrte daran. Sie folgte ihm.
»Da, du führst sie«,
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