Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
antwortete ihr Partner wie das Gespenst einer Glocke. Ich werde zusehen, wie die Sterne im Meer untergehen, dachte Tenar, aber sie schlief friedlichen Herzens sofort wieder ein.
Als sie am grauen Morgen erwachte, saß Ged neben ihr, hatte sich den Mantel um die Schultern gelegt und blickte nach Westen. Sein dunkles Gesicht war vollkommen ruhig, voller Stille, wie sie es vor langer Zeit am Strand von Atuan gesehen hatte. Er hatte die Augen nicht niedergeschlagen wie damals; er blickte in den grenzenlosen Westen. Sie folgte seinem Blick und sah, wie der Tag kam; der ganz klare Himmel spiegelte die Pracht von Rosa und Gold wider.
Ged wandte sich ihr zu, und sie sagte zu ihm: »Ich liebe dich, seit ich dich kenne.«
»Lebensgeberin.« Er beugte sich vor und küßte ihre Brust und ihren Mund. Sie drückte ihn einen Augenblick an sich. Sie standen auf, weckten Therru und gingen weiter; doch als sie zwischen die Bäume traten, blickte Tenar noch einmal zu der kleinen Wiese zurück, als beauftrage sie sie, das Glück, das sie hier erlebt hatte, zu bewahren.
Am ersten Tag ihrer Reise war ihr Ziel die Reise gewesen. An diesem Tag würden sie Re Albi erreichen. Tenars Gedanken weilten oft bei Tantchen Moor, sie fragte sich, was ihr wohl widerfahren war und ob sie wirklich im Sterben lag. Doch im Lauf des Tages und des Weges vermochte ihr Geist weder den Gedanken an die alte Hexe noch irgendeinen Gedanken festzuhalten. Sie war müde. Sie mochte es nicht, daß sie wieder diesen Weg zum Tod ging. Sie kamen an Eichenbrunn vorbei, stiegen in die Schlucht hinunter und wieder hinauf. Auf dem letzten langen Stück bergauf zum Oberfell fiel es ihr schwer, die Füße zu heben, und ihr Geist war stumpf und verwirrt, beschäftigte sich mit einem Wort oder Bild, bis es bedeutungslos würde – der Geschirrschrank in Ogions Haus oder die Worte Knochen-Delphin , die ihr einfielen, als sie Therrus Grastasche mit dem Spielzeug bemerkte, und die sich endlos wiederholten.
Ged schritt mühelos im Tempo des Wanderers aus, und Therru hielt sich neben ihm, die gleiche Therru, die vor nicht einmal einem Jahr auf diesem langen Anstieg ermüdet war und getragen werden mußte. Aber das war nach einem längeren Tagesmarsch gewesen. Und das Kind hatte sich damals noch nicht von seiner Bestrafung erholt.
Sie wurde alt, zu alt, um so schnell und so weit zu gehen. Es fiel ihr so schwer, bergauf zu steigen. Eine alte Frau sollte zu Hause am Kamin bleiben. Der beinerne Delphin, der beinerne Delphin. Bein, gebunden, der bindende Zauber. Der beinerne Mann und das beinerne Tier. Sie gingen vor ihr her. Sie warteten auf sie. Sie war langsam. Sie war müde. Sie mühte sich auf dem letzten Stück des Aufstiegs weiter und holte sie an der Stelle ein, wo die Straße auf der Höhe des Oberfell herauskam. Links lagen die Dächer von Re Albi, die schräg zu dem Rand des Felsens abfielen. Rechts führte die Straße zum Herrenhaus hinauf. »Hier hinüber«, sagte Tenar.
»Nein.« Das Kind zeigte nach links, zum Dorf.
»Hier hinüber«, wiederholte Tenar und schlug den Weg nach rechts ein. Ged begleitete sie.
Sie gingen zwischen den Walnußgärten und den Wiesen weiter. Es war ein warmer Spätnachmittag im Frühsommer. Nahe und fern sangen die Vögel in den Bäumen. Er kam die Straße vom großen Haus herunter und auf sie zu, der Mann, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte.
»Willkommen!« sagte er, blieb stehen und lächelte sie an.
Sie blieben stehen.
»Welch große Persönlichkeiten sind gekommen, um das Haus des Fürsten von Re Albi auszuzeichnen«, sagte er. Tuaho, das war nicht sein Name. Der beinerne Delphin, das beinerne Tier, das beinerne Kind.
»Mylord Oberster Magier!« Er verbeugte sich tief, und Ged verbeugte sich vor ihm.
»Und Mylady Tenar von Atuan!« Er verbeugte sich vor ihr noch tiefer, und sie fiel auf der Straße auf die Knie. Ihr Kopf sank hinunter, bis sie die Hände in den Staub stützte und sich duckte, bis auch ihr Mund im Staub der Straße lag.
»Jetzt krieche!« befahl er, und sie kroch zu ihm.
»Halt!« befahl er, und sie hielt an.
»Kannst du sprechen?« fragte er. Sie sagte nichts, weil sie keine Worte hatte, die ihr in den Mund kamen, aber Ged antwortete mit seiner üblichen ruhigen Stimme: »Ja.«
»Wo ist das Ungeheuer?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich habe geglaubt, daß sie ihren Schutzgeist mitbringen wird. Statt dessen hat sie dich mitgebracht. Den Obersten Magier Sperber. Welch großartiger Ersatz! Mit Hexen
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