Der erfolgreiche Abstieg Europas
falsch war. Die Annahme einer automatischen transatlantischen Solidarität ist ebenso falsch. Die USA wechseln nur zu verständlich ihre strategische Perspektive, wenn es nach ihrer Interessenlage geboten erscheint. Europa ist aus ihrer Perspektive an den Rand gerückt. An klaren Worten fehlt es keineswegs. Jeremy Shapiro, ein Berater der amerikanischen Außenministerin für Europa und Eurasien, zeichnet ein angemessen nüchternes Bild, das sich wie folgt paraphrasieren lässt: »Europa redet immer noch von einer gemeinsamen Vergangenheit und von gemeinsamen Werten. Damit wird impliziert, dass Europa der natürliche und traditionell wichtigste Partner der USA ist. … Die USA verhalten sich pragmatisch: Sie ignorieren Europa, wenn es keine geeinte Meinung hat, beispielsweise in der China-Politik; sie umgehen es, wenn es als Opposition auftritt, wie bei Problemen im Irak und im Nahen Osten; sie nutzen Europa, wenn sie auf Zustimmung stoßen, wie es im Afghanistan- und Iran-Konflikt der Fall ist; sie spalten Europa und setzen eigene Ziele mit Partnern gleicher Meinung um, zum Beispiel bei Verhandlungen mit Russland. Die Obama-Administration sieht sich nicht länger als Schutzpatron Europas, sondern sucht nach einem ebenbürtigen Partner mit eigenen Zielen und klar formulierten Standpunkten.« 48 Klarer kann man die Probleme des Selbstbetrugs der Europäer kaum noch formulieren.
Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns dem zweiten Mythos transatlantischer Debatten zuwenden. Er basiert auf der Annahme einer transatlantischen Wertegemeinschaft, die so sehr von gemeinsamen Werten getragen werde, dass sich daran kaum rütteln lasse. Das soll auch gar nicht grundsätzlich bestritten werden. Sicherlich sind gemeinsame Werte vorhanden. Sie sind auch wichtig. Aber wenn man nur weit genug abstrahiert, fehlt diesen Werten die Fähigkeit, konkretes politisches Handeln unmittelbar zu bestimmen. Werte wie Demokratie, Menschenrechte, individuelle Freiheit etc. sind im transatlantischen Kontext entstanden und haben dort ihre Bewährungsprobe bestanden. Aber wir teilen sie auch mit jeder anderen Demokratie in der Welt. Nichts davon ist heute mehr allein »transatlantisch«, wo wir uns ohnehin bemühen, diesen Wertemustern zur globalen Geltung zu verhelfen.
Europa gefällt sich immer noch in seiner Rolle als engster Verbündeter der USA. Die Wahl Obamas hat gerade in Europa neue Hoffnungen geweckt, die längst wieder verflogen sind, denn die grundsätzlichen transatlantischen Interessenunterschiede bestehen fort, zum Teil verschärfen sie sich sogar.
Auch die Hoffnung, unter Präsident Obama würde das alles anders und wieder besser werden als unter seinem Vorgänger Bush, hat getrogen. Und Obama lässt es auch nicht an klaren Signalen fehlen. Im Februar 2010 sagte er kurzerhand den eigentlich turnusgemäß anstehenden EU-USA-Gipfel ab. »Wenig beeindruckt« sei er von dem Gipfel des Jahres 2009 in Prag gewesen, hieß es aus seiner Umgebung. An reinen Showveranstaltungen zur Beruhigung der Europäer liegt ihm nichts. In Washington herrschte Verwirrung darüber, »wer in Europa federführend war und wo das Gipfeltreffen als Zeichen neuer Führung wirklich veranstaltet werden sollte. Es wurde auch gesagt, dass die offiziellen US-Vertreter frustriert darüber seien, dass der Lissabon-Vertrag der EU immer noch keine einheitliche Stimme verliehen hat, welche den Beziehungen mehr Kontinuität geben würde.« 49
Der Gipfel fand dann schließlich doch am 20. November 2010 in Lissabon statt. An Gebetsmühlenrhetorik hat es natürlich wieder nicht gefehlt: »Vor dem Gipfel überschütten sich beide Seiten mit Lob. Die transatlantischen Beziehungen seien ›einzigartig‹ und entscheidend für den globalen Wohlstand, heißt es vonseiten der EU. ›Die Vereinigten Staaten haben bei der Förderung von Sicherheit und Wohlstand auf der ganzen Welt keinen engeren Partner als Europa‹, heißt es aus dem Weißen Haus. ›Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind entscheidend für den globalen Wohlstand, und wir werden für ein starkes und nachhaltiges Wachstum in unseren Volkswirtschaften zusammenarbeiten.‹« 50
Das peinliche Signal an die Europäer konnte dadurch allerdings nicht wirklich schöngeredet werden. Es ist offensichtlich, dass die neue Administration weniger Interesse an einem überdehnten und entscheidungsschwachen Europa hat, aber dadurch allein wird Europa nicht stark. Erwartungen insbesondere an die USA zu pflegen, ist jetzt die
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