Der erfolgreiche Abstieg Europas
falsche Strategie. Aber noch scheint das leichter zu sein, als die EU selbst zu einem Interessenträger aus eigener Kraft zu machen. In vielen aktuellen Bereichen globaler Risikopolitik hat die EU (noch) keine eigene Politik anzubieten. Die Konsequenz ist ebenso einfach wie riskant: Die EU beschränkt sich auf wortreichen Symbolismus und wird immer weniger ernst genommen. Dies gilt sowohl für die USA, aber erst recht für die politischen Eliten der Schwellenländer. Sie treiben Handel, aber sie lassen sich nicht mehr politisch von Europa belehren.
Für eingefleischte Transatlantiker ist es offene Häresie, aber die transatlantische Brücke trägt nicht mehr automatisch. Während uns im Kalten Krieg die gemeinsame Bedrohung und der Schutzschirm der USA über Europa zusammengehalten haben, sind Verlegenheitslösungen unter Bush und zwischenzeitlich eine blanke Obamania kaum tragfähige Voraussetzungen für belastbares gemeinsames Handeln. Die Ausrede, Bush sei an allem schuld, funktioniert bald nicht mehr, und die Einsicht will nicht in unsere Köpfe, dass die USA keine »europäische Macht« mehr sind, wie sie es in den guten alten Zeiten des Kalten Krieges sicherlich waren. Heute liegt das strategische Interesse der USA im Pazifik, im Nahen und Mittleren Osten und in Südasien. Es sollte uns natürlich freuen, nicht mehr im Brennpunkt globaler Spannungen zu leben. Aber gerade deshalb gibt es keine Ausreden mehr, die neue Machttektonik der Welt nicht zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Das heißt zunächst nur eines: Auch in den transatlantischen Beziehungen ist radikales Umdenken angesagt. Idealistische Sprüche über gemeinsame Werte haben wir genug gehört. Ein reiner Bezug auf gemeinsame Werte verkommt zur Floskel, wenn daraus keine politisch umsetzbaren gemeinsamen Interessen entstehen. Dass wir »nur gemeinsam stark sind«, wird uns immer wieder gleichsam als Tatsache aufgetischt. Bedauerlicherweise bleiben solche Bekundungen graue Theorie. Mit der Wirklichkeit transatlantischer Interessendivergenzen haben sie kaum noch etwas zu tun.
Es ist Zeit für einen ehrlichen und realistischen Kassensturz in den transatlantischen Beziehungen. Schlichte Freundlichkeiten zwischen Spitzenpolitikern reichen bei Weitem nicht mehr aus, um die auseinanderlaufende Interessenlage zu überdecken. Das Amerika, das wir Europäer gerne wahrnehmen, ist immer noch das Amerika der Neuenglandstaaten, der global aufgeschlossenen Eliten, die man in New York, Washington und Boston trifft. Das pazifische Amerika hat eine gänzlich andere, transpazifisch und hispanisch geprägte Perspektive. Und das große Kernland dazwischen bleibt dem Kirchturmdenken und fundamentalistischen Werten verhaftet.
Im November 2009 konnte man live im Fernsehen verfolgen, wie symbolisch überfrachtet die Betonung einer transatlantischen Wertegemeinschaft ist. Der deutschen Bundeskanzlerin war die beachtliche Ehre zuteilgeworden, vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses zu sprechen. Im ersten Teil ihrer Rede, in der sie sehr persönlich auf ihre eigenen Erfahrungen im Kampf um Freiheit in der ehemaligen DDR einging, wurden ihr in zehn Minuten sieben stehende Ovationen zuteil. Als sie aber im zweiten Teil ihrer Rede auf die Bedeutung von Klimaschutz für die Zukunft der Menschheit einging, rührte die republikanische Hälfte des Auditoriums keine Hand zum Applaus. Gemeinsame Interessen sehen anders aus, möchte man meinen.
Schließlich darf man nicht vergessen, dass es mittlerweile mehr Trennendes als Gemeinsames in fast allen wesentlichen Politikbereichen gibt. Innenpolitisch besteht auf beiden Seiten des Atlantiks kein Einvernehmen über die Rolle des Staates und die Bedeutung individueller Freiheit gegen staatliche Eingriffe, selbst wenn es sich um Vorsorgemaßnahmen wie Krankenversicherungen und Ähnliches handelt. Was in Europa als selbstverständliche Leistung des Staates gilt, grenzt in den USA an Kommunismus. Soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Fairness, Defizite im Staatshaushalt und die (gerechte) Verteilung von Wohlstand werden grundsätzlich unterschiedlich interpretiert. Auf internationaler Ebene gibt es kein Einvernehmen über Fragen nationaler Souveränität und die Rolle internationaler Institutionen (vom Strafgerichtshof bis zu den Vereinten Nationen). Offene Kontroversen prägen die transatlantischen Diskussionen zur Bekämpfung der globalen Finanzkrise, des internationalen Handels und der Währungspolitik. Und nicht
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