Der erfolgreiche Abstieg Europas
zuletzt an der Frage des Aufstiegs neuer Mächte und ihrer Integration in globale Kooperationszusammenhänge scheiden sich die Geister. Gemeinsame Werte zu haben, ist in Anbetracht dieser Palette von Unterschieden eigentlich nur ein schwacher Trost.
Selbst im Bereich wirtschaftlicher Zusammenarbeit zeigen sich strategische Unterschiede in aller Deutlichkeit. Trotz des stetig und stereotyp wiederholten Bekenntnisses zur Zusammenarbeit verlassen sich beide Seiten bei zukunftsrelevanter Großtechnologie nicht auf den Partner, sondern gehen konsequent und in offener Konkurrenz eigene Wege: NASA und das europäische Raumfahrtprogramm ESA, Boeing und Airbus, GPS und Galileo stehen für solche Großprojekte. Das einzige gemeinsame transatlantische Rüstungsprojekt MEADS (Medium Extended Air Defense System), ein Raketenabwehrsystem, das das veraltete Patriot-System ablösen sollte, ist im Februar 2011 zunächst von den USA, dann auch von Deutschland aufgekündigt worden. Dem dritten Partner Italien wurde so die Entscheidung abgenommen.
Insgesamt kann das für Europa nur eines heißen: Wer in den USA als verlässlicher Partner ernst genommen werden will, muss bereit und fähig sein, mehr zu tun, als sich nur verbal auf die glorreiche Vergangenheit und gemeinsame Werte zu berufen. Wer ernst genommen werden will, muss liefern. Noch ist Europa dazu weder bereit noch in der Lage. Beiderseitige Enttäuschung und der nächste transatlantische Katzenjammer sind also schon vorprogrammiert. Aber vielleicht hilft den Europäern ja die derzeitige Krise, zumindest einzusehen, dass sie in der unmittelbaren Gefahr stehen, in der künftigen globalen Ordnung am Ende dieser Krise an den Rand gedrängt zu werden.
Europa ist aus dem Dornröschenschlaf der vergangenen 20 Jahre noch nicht erwacht. Es würde sich mehr als lohnen,gelassener über die Welt und Europas Rolle in 20 Jahren nachzudenken. Statt perfekt einstudierter Gebetsmühlenpolitik würde ein realistischer Blick auf die Erwartungen in den USA schon weiterhelfen. An entsprechenden Warnsignalen fehlt es nicht: Im November 2008 legte der National Intelligence Council (NIC) seinen Bericht »Global Trends 2025 – A Transformed World« vor. Europa wird in der Rubrik »andere Schlüsselakteure« in zweieinhalb Spalten mit dem Zusatz beschrieben »loosing clout in 2025« (Einflussverlust im Jahre 2025). Deutschland wird nicht einmal erwähnt. Das ist die Realität transatlantischer Wahrnehmungen. Weder gebetsmühlenartige Beschwörungsformeln noch die automatisierte Flucht in Forderungen nach immer wieder neuen Institutionen werden daran etwas ändern. Solange Europa auf Amerika wartet, anstatt selbst die Initiative des Handelns in die Hand zu nehmen, bleibt es ein Akteur zweiter Klasse und muss damit leben, immer weniger ernst genommen zu werden. Es ist höchste Zeit, diesen Formen des transatlantischen Selbstbetrugs ein Ende zu setzen.
Das Kreuz mit den Werten
Die dritte Lebenslüge des Westens, mit der wir uns hier beschäftigen wollen, hat mit der Debatte um Werte zu tun, die wir aus westlicher Sicht immer noch glauben, aus einem Gefühl der Überlegenheit führen zu können. Wertedebatten sind unbezweifelbar wichtig. Sie dienen in jeder Kultur, in jedem Staate und in jeder Gemeinschaft der Selbstvergewisserung und der Selbstverständigung. Sie haben manch eine Diskussion der vergangenen zehn Jahre geprägt. Immerhin hatte es nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes so ausgesehen, als hätte sich der Westen mit seinem politisch und wirtschaftlich durch die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft ausgewiesenen Wertesystem allen anderen Modellen als deutlich überlegen erwiesen. Diese Einstellung hat sich zehn Jahre später, wie wir gesehen haben, merklich verändert. Aber im politischen Denken des Westens ist diese Botschaft nochnicht wirklich angekommen. Entsprechend groß ist die Diskrepanz zwischen den Bekundungen, für die Verbreitung westlicher Werte einzutreten, und der tatsächlichen Politik und ihren Ergebnissen. Wenn Werte zur Grundlage missionarischer Politik werden, ist oft der Weg in Sendungsbewusstsein und Ideologie die Folge. Dies gilt erst recht, wenn sie konjunkturell behandelt werden, also immer dann ins Feld geführt werden, wenn es gerade politisch opportun erscheint.
Deshalb hören Wertedebatten irgendwann klammheimlich auch wieder auf, nur um bei nächster Gelegenheit erneut aus der Schublade gezogen zu werden, wenn es gerade mal wieder politisch sinnvoll
Weitere Kostenlose Bücher