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Der erfolgreiche Abstieg Europas

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Titel: Der erfolgreiche Abstieg Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Sandschneider
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erscheint. In der Regel führen sie auch zu keinem Ergebnis. Das hat mit einem einfachen, aber sehr wichtigen Sachverhalt zu tun: In einer auf Glaubwürdigkeit ausgerichteten Politik sind Werte nicht verhandelbar und auch nicht kompromissfähig. Wer Wertedebatten führt, geht aufs Ganze – und riskiert eben seine Glaubwürdigkeit, wenn er Werte zu deren Nachteil mit anderen wichtigen Interessen abgleichen muss.
    An Jubiläums- und Gedenktagen wird von westlichen Politikern ein rhetorisch immer wieder zelebrierter Konsens wiederholt: Westliche Werte und vor allem Menschenrechte, so heißt es dann in den üblichen Reden, seien universell, Kernbestand unseres westlichen Wertesystems und zentrales Interesse unserer Außenpolitik. Menschenrechte zu schützen, gehöre nicht nur zu den Aufgaben des eigenen Staates, sondern sei auch zentrales Anliegen im Umgang mit allen Staaten, in denen sie noch verletzt würden. So weit der rhetorische Konsens. Aber Reden an Jubiläums- und Gedenktagen ersetzen keine praktische Politik und erst recht schaffen sie keine Wertepolitik, die gleichermaßen glaubwürdig und effektiv sein kann.
    Wenn wir uns nur die Mühe machen würden, einmal einen Augenblick unsere selbstherrlichen Debatten hintanzustellen und hinzuschauen, wie man beispielsweise solche Fragen in China diskutiert, würde sehr schnell ein völlig anderes Bild und damit auch die Möglichkeit einer völlig anderen Politik in den Bereich des Möglichen kommen. Selbst unter denjenigen, die in China aktiv das Konzept universeller Werte undMenschenrechte hochhalten, herrscht Skepsis vor, ob das vom Westen propagierte Bild zu ihnen passt: »Die Vorstellung einer ›internationalen Gemeinschaft‹, in der sich jedes Land der Erde ohne Arg aufgehoben fühlen kann, würde den meisten von ihnen naiv vorkommen. Die historische Erfahrung lehrt sie, dass keine ausländische Macht sie vor den innen- und außenpolitischen Schrecken der letzten Jahrzehnte bewahrt hat: weder vor dem Opiumkrieg noch vor dem Terrorregime der Taiping, weder vor der Unterjochung durch die Japaner noch vor dem Bürgerkrieg, nicht vor der Hungerkatastrophe Ende der 50er-Jahre noch vor der Kulturrevolution. Viele nicht westliche Länder mussten in den letzten Jahrhunderten die Erfahrung machen, dass sie im Notfall nur auf sich selbst verwiesen waren.« 51 Glaubwürdigkeit ist folglich auch das große Defizit solcher Debatten. Um sie zu erreichen, müsste wohl erst der Wunschtraum in Erfüllung gehen, dass diese geführt werden, ohne dass man im Westen das eigene Wohlbefinden in den Mittelpunkt stellt.
    Nehmen wir für einen Augenblick die Lieblingsdebatte des mitteleuropäischen Gutmenschen als Beispiel: Menschenrechtsverletzungen in Tibet. In schöner Regelmäßigkeit – und immer wenn der Dalai-Lama nach Europa reist – führen wir in Deutschland eine scheinbar außenpolitische Debatte mit China über Menschenrechtsverletzungen in Tibet, die doch eigentlich im Kern völlig innenpolitisch bestimmt ist. Wer sich beteiligt, erntet hierzulande breite Zustimmung in der öffentlichen Meinung. Eine gigantische Versuchung für Politiker, sich mit Gebetsschal umkränzt mit dem tibetischen Würdenträger ablichten zu lassen.
    Ein realistischer Blick auf die Ergebnisse und Auswirkungen einer solchen Politik zeigt jedoch ein ganz anderes Bild: Wer Länder wie China in Fragen der Menschenrechtspolitik an den Pranger stellt und durch internationalen Druck versucht, die Politik des bevölkerungsreichsten Landes der Welt zu verändern, tut viel für das eigene politische Wohlgefühl, erreicht aber wenig, in vielen Fällen sogar eher Nachteile für die betroffenen Menschen in China.
    Vielleicht muss man diese Politik einmal satirisch überspitzt beschreiben, um ihre Doppelbödigkeit deutlich zu machen: Die Tibeter sind zwar arm, aber so schön bunt in ihren safranroten Gewändern. Mit ihrem glücklichen Lächeln auf sonnenverbrannten Gesichtern verkörpern sie immer noch unseren unerfüllten Traum von Shangri-La, 52 dass wir alles daransetzen, diese Kultur zu erhalten. Wir vergessen völlig, dass unsere ebenso hehren Forderungen nach Entwicklung für diese Menschen genau dazu führen, dass diese Kultur zumindest ein Stück weit zerstört wird. Ganz gleich, was man über Chinas Politik denkt, wer Tibet entwickeln will, die rund sechs Millionen Tibeter an den Segnungen der Moderne teilhaben lassen will, der muss die Veränderungen, die Identitätskrisen und schließlich den

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