Der erfolgreiche Abstieg Europas
setzte mit einer gewaltigen Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen ein. Die Entkolonialisierung und die damit einhergehende Entlassung der allermeisten Kolonien in staatliche Selbständigkeit brachte Akteure auf die Bühne der Weltpolitik, deren genaue Interessen schwer berechenbar waren und um deren Gunst aus der Sicht der dominierenden Mächte des bestehenden Systems mit allen Mitteln gerungen werden musste. Den neuen Akteuren ihrerseits blieb die Wahl, ob sie sich eher für eine Anlehnung an das westliche oder das östliche Lager entscheiden wollten, entsprechende Finanzierungs- und Unterstützungszusagen inbegriffen.
Aber die Veränderungswellen gingen noch weiter. Beginnend mit den 70er-Jahren markierte der Aufstieg von ressourcenreichen Staaten, insbesondere der Öl produzierenden Staaten um den Arabischen Golf, eine weitere Machtverschiebung erheblichen Ausmaßes für die damalige Weltordnung. Fast parallel dazu begann ein Prozess nachholender ökonomischer Entwicklung, wie er in Textbüchern der Entwicklungstheorie entworfen und in vielen gut gemeinten Politikerreden gefordert worden war. Kleinere Ökonomien im ostasiatischen Raum machten sich auf den Weg, die wirtschaftlichen Erfolgsrezepte des Westens auf ihre Art zu kopieren. Die ursprünglichen »vier kleinen Tiger«, Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, stehen exemplarisch für diese Entwicklung. Zumindest in einigen Fällen – etwa in Südkorea und Taiwan – konnte sogar die westliche Wunschvorstellung einer erfolgreichen nachholenden Demokratisierung erfüllt werden. Während die sogenannte »dritte Welle der Demokratisierung« nach 1974 immer weitere Teile der Welt erfasste, konnte man in den 80er-Jahren fast den Eindruck gewinnen, dass das westliche Modell der Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft tatsächlich über die Fähigkeit, sich international durchzusetzen, verfügen könnte.
Diese Erwartung wurde durch den dritten Zusammenbruch der Weltordnung noch nachhaltig verstärkt. Mit dem Niedergang des kommunistischen Blocks und dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 fand die Nachkriegsordnung, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt hatte, ein überraschendes Ende. Mit dem Wegfall der bipolaren und im Kern nuklearen Bedrohung entfiel nicht nur ein wesentliches Kernelement sicherheits- und außenpolitischer Positionen im Westen, für viele Staaten der damals noch sogenannten »Dritten Welt« entfiel auch die Möglichkeit der Wahl zwischen West und Ost und damit der Spielraum des Manövrierens zwischen unterschiedlichen Anforderungen an ihre eigene Politik. Gleichzeitig konnte man für einen Augenblick den Eindruck gewinnen, dass die auf westliche Initiative und angeführt von den USA errichteten Strukturen der internationalen Politik nun auf Dauer gestellt werden könnten. Es schlug die Stunde der erwähnten Träume von 1989. Es schienso, als würde ein Zeitalter kooperativer, friedlicher und entwicklungsorientierter globaler Politik anbrechen, in dem die westliche Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft ihren globalen Siegeszug antreten konnte.
Die Welt ohne transatlantische Ordnung
Natürlich bietet die derzeitige Weltwirtschaftskrise mit ihren noch unüberschaubaren Risiken allen Grund, weniger optimistisch in die Zukunft zu schauen. Die Karten werden wie in jeder Krise neu gemischt. Die Debatte um eine neue Weltordnung ist längst wieder voll entbrannt. Die Weltwirtschaftskrise beschleunigt sie weiter. Und die Veränderungen in den Machtverhältnissen auf globaler Ebene sind in ersten Ansätzen erkennbar. Die Schwellenländer streben erfolgreich nach mehr Einfluss in globalen Gremien, schließen sich zu neuen Allianzen zusammen, um ihre Interessen gegen den alten Westen besser koordinieren und vertreten zu können – nur Europa steckt immer noch tief in einer Phase der Nabelschau und Selbstgefälligkeit und leistet sich eine Beschäftigung mit sich selbst, die in anderen Teilen der Welt auf Desinteresse und Unverständnis stößt.
Werden wir also schon bald die Konturen einer neuen Weltordnung sehen, in der der viel beschworene »Westen« längst nicht mehr die bestimmende Rolle spielen wird? Werden die USA, aber vor allem die EU an internationalem Einfluss verlieren, weil Schwellenländer wie Russland, Indien, Brasilien und China in der Lage sind, ihre neu gewonnene Wirtschafts- und Finanzkraft auch in politische Macht zu übersetzen? Oder kann das genaue Gegenteil eintreten?
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