Der erfolgreiche Abstieg Europas
glaubten viele, dass Japans Wirtschaft bald die Nummer eins werden würde. Dann kam die große japanische Krise – und plötzlich war alles anders. Ausheutiger Sicht wirkt Chinas Aufstieg unaufhaltsam. Dabei wird übersehen, dass faule Kredite und Immobilienblasen das Wirtschaftswunderland gefährden wie nie zuvor. Vielleicht redet schon bald keiner mehr über China, sondern über Indien.« 59 Oder, so könnte man fortfahren, über Brasilien, Südafrika oder irgendeinen anderen Kandidaten aus der Gruppe von Aufsteigern, die mittlerweile schon als »N11« – die nächsten elf – bezeichnet werden.
An die damaligen Debatten um den Aufstieg Japans 60 werden sich sicher noch einige erinnern. Aber dass der Westen einmal mit angstgeweiteten Augen auf den beeindruckenden ökonomischen Aufstieg einer anderen Gruppe östlicher Ökonomien geschaut hat, ist heute weitgehend vergessen. Und doch war es so. In der zweiten Hälfte der 50er- und in den frühen 60er-Jahren war die Situation durchaus vergleichbar. Der amerikanische Ökonom Paul Krugman bastelte daraus mit einer gewissen Häme ein »Märchen«, das er schon 1994 der ökonomischen Fachwelt (und nicht nur ihr) genüsslich unter die Nase rieb. Das Märchen liest sich so: »Es war einmal eine Zeit, in der sich westliche Meinungsführer von den außergewöhnlichen Wachstumsraten einer Gruppe östlicher Ökonomien sowohl beeindruckt als auch erschrocken zeigten. Obwohl diese Ökonomien noch wesentlich ärmer und kleiner waren als die des Westens, erschien die Geschwindigkeit, mit der sie sich von Agrargesellschaften in industrielle Machtzentren verwandelten, ihre beständige Fähigkeit, Wachstumsraten zu erzielen, die die fortgeschrittener Nationen mehrfach übertrafen, und ihre wachsende Fähigkeit, in bestimmten Bereichen amerikanische und europäische Technologie herauszufordern oder gar zu überflügeln, die Dominanz westlicher Macht, aber auch westlicher Ideologie infrage zu stellen. Die Führer dieser Nationen teilten unseren Glauben an freie Märkte und unbegrenzte bürgerliche Freiheiten nicht. Sie behaupteten mit wachsendem Selbstbewusstsein, dass ihr System überlegen sei: Gesellschaften, die starke, ja sogar autoritäre Regierungen akzeptierten und bereit waren, individuelle Freiheiten im Interesse öffentlicher Güter einzuschränken, sich auf ihre ökonomische Entwicklung zu konzentrieren und kurzfristige Konsuminteressen zugunsten langfristigenWachstums zu opfern, würden schließlich und endlich die zunehmend chaotischen Gesellschaften des Westens hinter sich lassen. Und eine wachsende Minderheit westlicher Intellektueller stimmte dem zu.« 61
Wer sich bei diesem »Märchen« aus vergangener Zeit an heutige Debatten über den Aufstieg Chinas, der sogenannten BRIC-Staaten oder der N11 erinnert fühlt, sollte eines beachten: Krugman beschreibt die westlichen Reaktionen auf den Aufstieg kommunistischer Ökonomien, der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten, in den 50er- und frühen 60er-Jahren. Diese Debatten wurden damals sehr ernst genommen.
Heute erinnert man sich kaum mehr – und mag es schon gar nicht mehr glauben. Aber damals war es die vermeintliche Wirtschaftsleistung der Sowjetunion, die im Westen Angst und Schrecken verbreitete. Joseph Nye bringt es in einer kurzen Zusammenfassung auf den Punkt: »Die Sowjetunion umfasste das größte Territorium, die drittgrößte Bevölkerung und die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und produzierte mehr Öl und Gas als Saudi-Arabien. Zudem besaß die UdSSR fast die Hälfte der weltweiten Nuklearwaffen, hatte mehr Männer unter Waffen als die USA und die meisten Beschäftigten in Forschung und Entwicklung. Sie zündete 1952 – ein Jahr nach den USA – eine Wasserstoffbombe und war das erste Land, das (1957) einen Satelliten ins All schickte. Was die Soft Power anging, so war die kommunistische Ideologie in Europa nach 1945 aufgrund ihrer Rolle im Kampf gegen den Faschismus attraktiv. Die sowjetische Propaganda förderte aktiv einen Mythos von der Unabwendbarkeit des Triumphes des Kommunismus.« 62
Mit dem gesicherten historischen Wissen der Entwicklungen seit dem Sputnik-Schock erscheinen uns solche Überlegungen heute geradezu grotesk. Vielleicht auch ein Grund, warum wir sie und die Lektionen, die man aus ihnen ziehen kann, allzu schnell vergessen haben. Stattdessen pflegen wir unsere lieb gewordenen Tunnelblicke – und sind fest davon überzeugt, dass das Licht am Ende des Tunnels tatsächlich von
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