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Der erfolgreiche Abstieg Europas

Der erfolgreiche Abstieg Europas

Titel: Der erfolgreiche Abstieg Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Sandschneider
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oder hegemoniale Ordnungen. Alles Theorie wohlgemerkt.
    Festhalten muss man nur mit aller Klarheit, dass Multipolarität beziehungsweise Nichtpolarität per se keine Garantie für Sicherheit und Wohlstand ist. Das genaue Gegenteil könnte der Fall sein. Daraus ergibt sich wohl auch die zentrale Herausforderung an außenpolitisches Handeln des Westens: Es müssen Wege gefunden werden, mit neuen und aufsteigenden Akteuren so umzugehen, dass Zusammenarbeit und Problemlösung ermöglicht werden, ohne dass es zu Versuchen einseitiger Interessendurchsetzung und damit hochgradig konfliktgeladener Folgesituationen kommt.
    Diese Fragen werden natürlich längst und durchaus auch kontrovers diskutiert. In der Theorie lassen sich sechs unterschiedliche Strategien für etablierte Mächte entwickeln, die den Umgang mit Aufsteigern prägen können. 67 Das Spektrum beginnt mit der zumindest theoretischen Möglichkeit von Präventivkriegen (preventive war), die Aufsteiger rechtzeitig in ihre machtpolitischen Schranken weisen sollen. Hier unterscheiden sich die USA und Europa sehr deutlich. Für die USA ist der Einsatz ihres Militärs ein jederzeit probates Mittel der Außenpolitik, für die Europäer nur der letzte Ausweg, wenn alle anderen Mittel zuvor versagt haben. Auf geringen Eskalationsstufen kann eine Strategie im Ausgleich (balancing) bestehen, indem versucht wird, wo immer möglich machtpolitische Gleichgewichte zu schaffen. Das »Gleichgewicht des Schreckens« während des Kalten Krieges kann hier als wesentliches Beispiel dienen. Weiterhin gibt es vor allem für kleinere Staaten die Optionen, auf Mitläufereffekte (bandwagoning) zu setzen, und für größere den Interessenausgleich durch eine Strategie der Einbindung (binding, engagement) zu suchen. Ausweichstrategien (buck-passing) bieten sich natürlich ebenfalls an, wenn die Tendenz besteht, einer drohenden Herausforderung oder Gefahr nicht selbst entgegenzutreten, in der Hoffnung, dass ein anderer Staat das tut. Diese Strategie lässt sich historisch im Umgang Frankreichs und Großbritanniens mit dem Deutschen Reich in den30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, heute gelegentlich auch in transatlantischen Debatten über den Aufstieg Chinas beobachten.
Neue Regeln der Weltpolitik
    Wann immer über Multipolarität nachgedacht wird, lautet eine implizite Annahme von europäischer Seite, dass Europa praktisch automatisch einen der Pole darstellt. Selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand von Überdehnung, Euro-Krise und Entscheidungsblockade scheint die EU kraft ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit tatsächlich dauerhaft prädestiniert, eine entscheidende Rolle in globalen Fragen zu spielen. Bedauerlicherweise teilen die strategischen Eliten der Schwellenländer diese ambitionierte Perspektive mitnichten. Aus chinesischer und indischer Sicht ist es keineswegs ausgemacht, dass Europa künftig zu den Polen der Weltpolitik gehört.
    Alles Jammern hilft nichts: Die Zeiten, in denen der Westen dem Rest der Welt seine Regeln vorschreiben konnte, sind ein für alle Mal vorbei. Die Gruppe der acht (G8), in denen der Westen noch bestimmend war und nach eigenem Gutdünken die Regeln der Weltpolitik festlegen konnte, gehört eigentlich schon der Vergangenheit an. Die neuen Machtstrukturen bilden sich in den G20 ab. Europa ist gut beraten, diese Machtverschiebung als Tatsache anzuerkennen und auf die Neulinge am runden Tisch globaler Entscheidungen ohne Belehrungs- und Verdrängungsabsichten zuzugehen. Länder wie China, Indien und Russland sind verlässlichere und konstruktivere Partner, wenn sie nicht um das Recht um Mitentscheidung schachern und kämpfen müssen. Belehrungen sind jedenfalls fehl am Platz.
    Aber es gibt durchaus Signale, die zur Vorsicht mahnen. Die vermeintlich neuen Pole im multipolaren System sind von der globalen Wirtschaftskrise zum Teil auch hart betroffen, sie haben sich allerdings auch mit größerer Geschwindigkeit als die entwickelten Ökonomien des Westens aus ihren Schwierigkeiten befreit. Zwar zollen sie trotz ihrer hohenFinanz- und Devisenreserven, einseitigen Wirtschaftsstrukturen und internen Verwerfungen erheblichen Tribut, aber insgesamt geht ihre Aufholjagd ungebrochen weiter. Vor allem in China stehen die Zeichen auf fortgesetztes schnelles Wachstum. Aber gerade in der Krise ist der Westen auf die Stabilität dieser Länder dringend angewiesen.
    Das eigentliche Trauerspiel spielt sich derweil in Europa ab. Man muss nicht in die beschriebene

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