Der erfolgreiche Abstieg Europas
Machtverteilung in den entscheidenden Gremien, insbesondere im Sicherheitsrat, entspricht immer noch der Konstellation der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Längst haben sich aber die Mehrheitsverhältnisse in der Vollversammlung zuungunsten des Westens verändert. Und bei jeder Diskussion um die Reform des Sicherheitsrates wird die Überrepräsentanz westlicher Staaten, und insbesondere Europas, von den Anwärtern auf verbesserte Mitspracherechte grundsätzlich infrage gestellt.
Dass der Westen darüber hinaus nicht ohne Weiteres in der Lage sein wird, seine Interessen jederzeit auf dem Interventionsweg durchzusetzen, ist spätestens seit den verlorenen Kriegen im Irak und in Afghanistan mehr als ersichtlich. Überdies führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass das westliche Erfolgsmodell – man mag es ein liberales Staats- und Wirtschaftsmodell oder schlicht nur die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft nennen – so nicht mehr als einziges Modell zur Nachahmung erstrebenswert erscheint. Im Gegenteil: Mit allem Nachdruck werden von Aufsteigerländern Alternativen ins Spiel gebracht, die mit ihren eigenen Erfolgsmodellen und Erfahrungen begründet werden und den Westen nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch konzeptionell immer stärker herausfordern. Das gilt beispielsweise für die aktuellen Debatten um Währungs- und Finanzpolitik, aber auch für Klimafragen und generell für alle Überlegungen, die sich mit institutionellen Formen globalen Regierens befassen.
All diese Entwicklungen für sich genommen sind schon Anlass genug, ernsthaft über fundamentale Veränderungen in der Weltpolitik und die Suche nach einer neuen Rolle sowohl für die USA als auch Europa nachzudenken. Wie ich bereits mehrfach festgestellt habe, fehlt es bedauerlicherweise in einem geradezu erschreckenden Maße an der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Ausmaß dieses Wandels. Es wird aber kein Weg daran vorbeiführen, dass wir uns allen Ernstes die Frage stellen, was die Grundlagen unseres möglichen Erfolges in der Zukunft sein müssen und wie sich Politik im weitesten Sinne des Wortes auf diese neuen Grundlagen einstellen muss, um nicht blind in eine Zukunft zu tappen, die längst von anderen gestaltet wird.
Angst lähmt, Empörung hilft nicht – also was dann? Das Geheimnis des Erfolges liegt darin, sich den Veränderungen zu stellen und sich ihnen anzupassen, anstatt vor Angst zuerstarren und nach der bestmöglichen Abwehrhaltung zu suchen. Jeder, der einmal nach China, aber auch nach Indien, Brasilien und Südafrika gereist ist, spürt sehr schnell, dass dort eine ganz andere und viel positivere Stimmung herrscht. Probleme haben die Menschen zuhauf, aber Zuversicht auch. Und die ist uns in Europa irgendwie verloren gegangen. Ob es daran liegt, dass wir zu satt sind und nur noch unseren »Abstieg« befürchten? Wie auch immer: China und die anderen Aufsteiger werden in Zukunft ihren Teil der Mitsprache bei globaler Regelsetzung einfordern. Und das ist völlig legitim. Europa, Deutschland und gar der gesamte Westen werden das kaum verhindern können. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass die Chinesen mit uns genauso rüde umgehen werden, wie wir es mit ihnen getan haben, als Regelsetzung auf Europäisch mit Kanonenbooten betrieben wurde. Es gehört zu den normalen Entwicklungen einer immer globalisierteren Welt, dass uns Interessen anderer Akteure unmittelbar und direkt betreffen. Auch China wird in einem langsamen und mühsamen Anpassungsprozess lernen, dass Kompromisse kostengünstiger zu haben sind als Ellbogenpolitik. Der erwachte »chinesische Drache« macht uns Angst, aber vielleicht kommt es tatsächlich darauf an, wie wir China und uns selbst in der Weltpolitik der nächsten Jahrzehnte sehen. Europa hat beim besten Willen keinen Grund, sich zu verstecken.
Risiko Multipolarität
Wann immer diese Veränderungen zum Gegenstand politischer Kommentare werden, reden europäische und deutsche Politiker gerne von Multilateralismus. Sie meinen die gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen allen wichtigen Akteuren, um auf diese Weise gemeinsam, im Konsens zur Lösung aller wichtigen Fragen zu kommen. In keiner politischen Grundsatzrede dürfen solche Bezüge fehlen. Aber selbst wenn man die idealisierte Vorstellung von internationaler Zusammenarbeit in einer globalisierten Welt noch so oft begrifflichstrapaziert, heißt das nicht, dass sie mehr mit der Realität zu tun hat.
Ein Blick in die Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher