Der erfolgreiche Abstieg Europas
des vergangenen Jahrhunderts zeigt das Spektrum der Möglichkeiten auf: Das 20. Jahrhundert begann mit einer multipolaren Ordnung der Kräfte, die das westfälische Staatensystem bildeten. Nach zwei Weltkriegen war daraus eine bipolare Ordnung geworden, in der die USA und die UdSSR dominierten. Nach 1989 wandelte sich diese Weltordnung zunächst und nur für kurze Zeit in eine unipolare mit den USA als einzig verbliebener Supermacht, nur um im letzten Jahrzehnt wieder deutlich multipolare Formen anzunehmen. Heute befindet sie sich, so argumentiert der Präsident des Council on Foreign Relations, Richard N. Haass, 64 im frühen Zustand von Nichtpolarität: Vielfältige Zentren bestimmen mit ihren jeweils verfügbaren Machtpotenzialen die Strukturen der Weltordnung.
Multipolare und erst recht nicht polare Weltordnungen können kooperativ geprägt sein. Dann nehmen sie früher oder später gestützt auf die hehren Prinzipien multilateraler Zusammenarbeit die Formen von Machtkonzertierung an, in der einige wenige zusammenarbeiten, um alle Übrigen dazu zu bringen, vereinbarte Regeln einzuhalten. Sie können aber auch kompetitiv sein, wenn sie sich auf die Ausbalancierung von Machtgleichgewichten stützen, die im Falle eines Scheiterns schnell in hoch konfrontativen Verhaltensmustern und im schlimmsten Fall in Kriegen enden können. Wieder werden wir mit allem Nachdruck an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnert, wo genau dies geschah. Überzogene Erwartungen sind schon deshalb fehl am Platz, weil in einer nicht polaren Welt berechenbare Staaten nicht mehr die einzigen Akteure sind. Regionale Kooperationen, globale Konzerne, Nichtregierungsorganisationen, aber auch Milizen und andere parastaatliche Akteure tragen ebenso zur neuen Unübersichtlichkeit bei wie die deutliche Zunahme globaler Risiken – von Terrorismus über Probleme des Welthandels bis zu Pandemien und den Auswirkungen staatlicher Zusammenbrüche.
Diese Veränderungen dürfen nicht zu der Fehlannahme verleiten, dass es ein »gefährliches Machtvakuum« gäbe, wieRobert Kappel, der ehemalige Präsident des GIGA (German Institute of Global and Area Studies) behauptet. 65 Machtpolitische Verschiebungen, wie wir sie heute beobachten, mögen uns nicht gefallen, sie bedeuten aber nicht, dass dort, wo der Westen an Macht verliert, automatisch ein Vakuum entsteht. Selbst der Verweis auf die inneren Schwächen der Aufsteigerländer, die sicherlich ihre globale Handlungsfähigkeit beeinträchtigen, vor allem wenn sie ihre sozialen Probleme nicht in den Griff bekommen, könnte sich als Bumerang erweisen. Legt man den Gini-Koeffizienten, der die relative Verteilung von Armut und Reichtum in einer Gesellschaft misst, zugrunde, rangiert selbst Deutschland nur am unteren Ende der Top 20 der Staaten, die über die größte Verteilungsgerechtigkeit verfügen. Die USA sind deutlich abgeschlagen. Aber wie Frank Sieren zu Recht anmerkt, gibt es einen maßgeblichen Unterschied: »In China werden viele Menschen schnell reich, während viele Arme langsamer vom Aufstieg des Landes profitieren. In den USA dagegen versinken ganze Landstriche in Armut. Selbst jeder zweite weiße Amerikaner glaubt inzwischen: ›Die besten Zeiten sind vorbei.‹« 66 Richtigerweise zieht Sieren den Schluss, dass wir im Westen die sozialen Unruhepotenziale in China gerne betonen, aber die in unseren eigenen Ländern ebenso gerne übersehen oder mit passenden Indikatoren (wie BSP und BIP) als entsprechend unbedeutender darstellen, als sie sind.
Fraglich erscheinen muss auch, ob die Aufstiegsländer nicht in der Lage sein werden, nach ihren Interessen und Möglichkeiten globale öffentliche Güter zu produzieren. Für den Augenblick ist das noch nicht wirklich erkennbar, aber schon in wenigen Jahren könnten die Dinge ganz anders aussehen. Sie werden eine solche Politik an ihren und eben nicht an unseren Interessen ausrichten. Mit einer solchen Entwicklung schlägt allerdings nicht notwendigerweise die Stunde verbesserter multilateraler Kooperation.
Automatische Erwartungen an die segensreichen Folgen multilateraler Zusammenarbeit sind mehr als hoffnungslos überzogen. Eine multipolare und schon gar eine nicht polare Welt sind eben nicht automatisch besser als eine bipolare, wie wir sie im Kalten Krieg erlebt haben. Im Gegenteil: SolcheOrdnungen sind in der Tendenz instabiler und volatiler – und damit also deutlicher von Konflikten geprägt und deshalb im Kern auch gefährlicher als bipolare
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