Der erfolgreiche Abstieg Europas
und Osteuropa mit der intensiven Beschäftigung mit Systemtransformationen. Demokratie und ihre innere Ordnung waren immer ein Thema des Faches gewesen. Jetzt kam die spannende Frage hinzu, wie man unter engen zeitlichen Rahmenbedingungen und sehr schnellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen den Übergang von der Autokratie zur Demokratie organisieren kann beziehungsweise muss. Ich habe damals in einer systemtheoretischen Perspektive eine These gewagt, die mir ausgesprochen logisch erschien. Sie lautete, dass die seit 1974 in Schüben beobachtbare Durchsetzung demokratischer Systeme in fast allen Weltregionen vor allem damit begründet werden könne, dass demokratische Systeme auf Dauer stabilisierungsfähiger seien als andere politische Systemtypen. Denn anders als autoritäre Herrschaftsformen verfügten sie über Mechanismen, Verfahren und Strukturen, die es dem politischen System wie auchden sozialen Teilsystemen ermöglichen, flexibler, effizienter und ressourcenschonender auf die sich beschleunigenden Umweltveränderungen zu reagieren. 72
Heute ist das Bild nicht mehr ganz so klar. Festzustehen scheint nur eines: Anstatt wie ein Kaninchen auf die Schlange der Autokratie zu starren, sind Demokratien gut beraten, zunächst über die eigene Leistungsfähigkeit und deren Verbesserung nachzudenken, bevor man vor der vermeintlichen Überlegenheit handlungsfähiger autokratischer Herrscher kapituliert.
Der trügerische Glanz der Demokratie
Im Wettbewerb mit China und anderen Aufsteigern geht es um mehr als nur um die wachsende Konkurrenz großer Nationalstaaten. Es geht um die Systemfrage. China ist eben keine Demokratie. Es ist nach wie vor eine Autokratie, in der eine kommunistische Partei mit Alleinvertretungsanspruch herrscht, jede Opposition gnadenlos unterdrückt und Menschenrechte verletzt. Aber China ist auch der erste Staat, der keine Demokratie ist, und dem es dennoch gelingt, Wohlstand für mehrere Hundert Millionen Menschen zu schaffen. Nur eingefleischte Optimisten erinnern daran, dass auch die westlichen Länder (mit Ausnahme der USA) nicht gerade demokratisch waren, als ihr Aufstieg begann, und setzen unverdrossen auf das Mantra der Modernisierungstheorie: Zuerst kommt ökonomische Entwicklung, dann entstehen Mittelschichten, die politische Partizipation einfordern – und am Ende schlägt die Stunde der Demokratie. Pessimisten verweisen darauf, dass ein neuer Systemkonflikt im Entstehen ist, der gut und gerne zum Kernkonflikt des 21. Jahrhunderts werden könnte: Demokratie gegen Diktatur.
Die Welt, so scheint es, steht wieder einmal kopf. Und natürlich fällt auf, dass die Schnelligkeit der Themenwechsel nur allzu leicht in Vergessenheit geraten lässt, welche Debatten wir noch vor wenigen Jahren mit Inbrunst geführt haben.
Niemand hätte etwa im Sommer 1984 gewagt, den historischen Niedergang des Kommunismus oder gar den Fall der Berliner Mauer vorauszusagen. Den nahenden Zerfall der Sowjetunion zu prognostizieren, hätte an politischen Schwachsinn gegrenzt. Noch standen die Zeichen in den Diskussionen unter westlichen Intellektuellen genau umgekehrt. In diesem Sommer 1984 erschien in Paris ein Buch, das eben dieses Gegenteil verkündete. Der Autor Jean-François Revel wählte einen provozierenden Titel: Comme les démocraties finissent – So enden die Demokratien . 73
Seine Argumentation schien auf den ersten Blick schlüssig und besorgniserregend zugleich. Im Kern verwies Revel auf den aggressiven Charakter der kommunistischen Ideologie und behauptete, die Demokratien seien auf Dauer nicht in der Lage, sich der militärischen, strategischen, politischen und vor allem der ideologischen Herausforderung des Kommunismus erfolgreich zu erwehren. Was im Sommer 1984 noch durchaus plausibel, ja besorgniserregend real erschien, war fünf Jahre später Makulatur. So sah es zumindest aus. Stattdessen veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington mit seinem typisch sicheren Instinkt für schlagzeilenträchtige Themen den Gegenentwurf. Sein Titel lautete: »Die dritte Welle der Demokratie«.
Huntingtons Argument stützt sich auf die Beobachtung historischer Demokratisierungswellen. Mit dem Jahr 1989 schien nun der endgültige Durchbruch der Demokratie als Herrschaftsform gelungen. Noch weiter ging Francis Fukuyama, der in ähnlicher Manier gar das »Ende der Geschichte« proklamierte: Die seit Jahrhunderten andauernde Konkurrenz zwischen Demokratien und
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