Der erfolgreiche Abstieg Europas
anderen Blickwinkel zu sehen. Bei genauer Betrachtung steht Europa immer noch auf dem Gipfel. Der Blick von außen zeigt eines mit großer Deutlichkeit: Nie in seiner wechselvollen Geschichte hat Europa eine ähnlich lange Periode von Frieden und Wohlstand erlebt. Nie in seiner Geschichte haben die Staaten Europas ähnlich freundschaftlich miteinander verkehrt, wie sie das heute tun.
Es gibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Region der Welt, die Ähnliches von sich behaupten kann, und die gleichzeitig über den Vorteil verfügt, dass alle ihre Staaten über strukturell verwandte, nämlich demokratische Systeme verfügen, einen weitgehend identischen Wertekanon vertreten und wirtschaftlich auf demselben Systemtyp fußen.
Man darf die Probleme Europas sicherlich nicht kleinreden. Ernst nehmen muss man sie allemal. Aber wenn man solche Debatten führt, muss immer klar sein, auf welcher Grundlage man eigentlich argumentiert und wie die Ausgangslage im Einzelnen aussieht. Europa hat keinen Grund, sich zu verstecken. Ganz im Gegenteil. Europa hat allen Grund, stolz zu sein auf die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der letzten 60 Jahre. Europa hat auch in einer künftigenmultipolaren oder gar nicht polaren Welt eine hervorragende Ausgangssituation, um den Wohlstand, die Sicherheit und die Lebensperspektiven seiner Menschen zu gewährleisten und zu fördern.
Man kann es auch so formulieren: Wer auf der Insel der Glückseligen lebt, sollte sich ernsthaft überlegen, ob es tatsächlich Sinn macht, sich darüber zu beklagen, dass das Manna, das täglich vom Himmel fällt, gelegentlich auch mal etwas bitter schmeckt und uns auf die Hüften schlägt.
Unnötige Debatten
Wenden wir uns also den Fragen zu, die sich Europäer aus lauter Verzweiflung über den Zustand des eigenen Kontinents nicht mehr in der Dringlichkeit, wie in den letzten Jahren, stellen sollten. »Braucht Europa eine Verfassung?« lautet die erste dieser Fragen. Seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages redet sich Europa von einer Krise in die andere. Die nächste Krise hängt schon als Menetekel an der Wand. Nichts wäre gegen eine Verfassung, die den Test der Verfassungswirklichkeit bestünde und zu einem europäischen Verfassungspatriotismus beitragen könnte, einzuwenden. Aber Europa hat seine historischen Erfolge auch ohne Verfassungstext erreicht. Am Ende zählt, was funktioniert. Die reine Lehre der Integration ist mit der vorschnellen Erweiterung ohne Entscheidungsgrundlage ohnehin zu Grabe getragen worden. Man muss nur bereit sein, es zuzugeben. Nach dem (politisch und rechtlich unvermeidbaren) Sündenfall der Erweiterung ohne belastbare Reformen der Entscheidungsmuster bleibt nur der pragmatische Umgang mit Entscheidungsblockaden: Europa braucht den Mut zu nachholender Konsolidierung! Das wird ohne Zweifel ein langer und schwieriger Prozess. Vorschnelle Kritik an den neuen, durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Institutionen und ihren Vertretern hilft hier nur begrenzt weiter. Zu diesem Prozess wird es gehören, Probleme dann zu lösen, wenn sie in der tagtäglichen Praxis auftauchen. Das ist mühsam, sicherlich frustrierend zuweilen, aber ohne wirkliche Alternative. Wem es dabei an visionären Zielen fehlt, mag sich vielleicht damit trösten, dass das, was Europa heute erreicht hat, weit jenseits der visionären Vorstellungskraft der Initiatoren des europäischen Einigungsprozesses liegt. An solchen langwierigen und mühsamen Prozessen ist nichts schlecht. Es kommt eben auf die Perspektive an.
»Braucht Europa eine Identität?«, wird zum Zweiten gerne gefragt. Auch hier lautet die Antwort: Nein! Identitäten lassen sich nicht verordnen, schon gar nicht am grünen Tisch. Identitätsdebatten setzen immer auf Inklusion (also die Beschreibung des Dazugehörenden). Sie brauchen aber, um überhaupt sinnvoll zu sein, auch Exklusion (also die Ausgrenzung des anderen). Eine gemeinsame Identität derer, die zum Klub gehören, verlangt nach Kriterien für den begründbaren Ausschluss anderer. Die scheinbar unendlichen Diskussionen um den Beitritt der Türkei, aber auch beispielsweise der Ukraine belegen die politische Brisanz solcher Überlegungen. Wie man solche Identitätsdebatten politisch einsetzt, haben Schriftsteller aus Mitteleuropa schon vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes erfolgreich demonstriert: 85 Milan Kundera aus der damaligen Tschechoslowakei, Czeslaw Milosz aus Polen und György Konrád aus Ungarn haben in ihren
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