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Der erfolgreiche Abstieg Europas

Der erfolgreiche Abstieg Europas

Titel: Der erfolgreiche Abstieg Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Sandschneider
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Erzählungen der 80er-Jahre mit Nachdruck die zentraleuropäische Identität ihrer Länder beschworen, sie aber gleichzeitig in offenen Gegensatz zu der ungeliebten sowjetischen/russischen Identität gestellt. Ihre Rezeption im westlichen Teil Europas hat viel dazu beigetragen, die Zugehörigkeit ihrer Länder zu Europa und zur europäischen im Unterschied zur sowjetischen Identität zu unterstreichen. Am Ende waren sie – jenseits der unmittelbaren Beitrittserfordernisse (Kopenhagen-Kriterien, Acquis communautaire) – erfolgreich. Das Prinzip ist bekannt: Die eigene Zugehörigkeit zu Europa wird begründet mit dem Ausschluss der anderen. Aber machen solche Ausschlussdebatten heute noch Sinn? Muss man nicht vielmehr festhalten, dass Europas Stärke seine Vielfalt und nicht seine viel beschworene einheitliche Identität ist? Wo steht geschrieben, dass Menschen von Nordfinnland bis Sizilien und vom Baltikum bis Portugal dieselbe Identität aufweisen müssen,um als Europäer zu gelten? Selbst wenn sie sich weiterhin dezidiert in ihrer nationalen Identität wahrnehmen, erschüttert das nicht die Grundfesten Europas. Gerade in dieser Vielfalt liegt die Stärke über eine erzwungene, künstliche und ständig labile Homogenität. Vielleicht hilft an dieser Stelle tatsächlich ein Blick über den Atlantik. Kein Amerikaner käme im Traum auf die Idee, überhaupt eine Frage nach »amerikanischer« Identität zu stellen. Man spricht gebrochenes Englisch, bezahlt Steuern und beachtet die Gesetze – so wird man zum Amerikaner (oder genauer: zum US-Bürger). In Europa scheint das nur zu funktionieren, wenn man von Finnland bis Portugal auf der Grundlage fest vereinbarter gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Identität zu handeln in der Lage ist. Die Schlussfolgerung ist einfach: Europa braucht den Mut zu legitimer Diversität! Darin liegt Europas Stärke und nicht seine zentrale Schwäche!
    »Aber braucht Europa nicht doch eine Finalität, um sich seiner eigenen Zukunft besser vergewissern zu können?« Sie ahnen es schon – die Antwort lautet: Nein! Die Zeit der großen globalen Visionen und Entwürfe ist vorbei. Die Schnelllebigkeit und Komplexität der Welt des frühen 21. Jahrhunderts verbieten die Festlegung auf finale Ordnungen. Sie bergen bestenfalls die Gefahr ideologischer Vereinfachung. Flexible Anpassung und »resilience« (Elastizität) sind sehr viel mehr gefragt als Finalitäten, über die ohnehin nicht einmal in der Theorie erkennbar Einvernehmen zu erzielen ist. Das schließt das Risiko des wiederholten Scheiterns ein. Mit Mark Leonard kann man also in Anlehnung an Samuel Beckett fordern: »Fail. Fail again. Fail better.« Warum Finalität also, wenn die Bilanz der Entwicklung nach immer wieder erfolgreichem Scheitern überzeugt? Statt über Finalität endlose Scheindebatten zu führen, braucht Europa den Mut zum Pragmatismus – Scheitern inbegriffen. Mit anderen Worten: Europa und seine Entscheidungsträger brauchen den politischen Willen, ihre gemeinsame Handlungsfähigkeit immer wieder aufs Neue herzustellen!
    Zollen wir schließlich allen Gutmenschen dieser Welt den notwendigen Tribut und fragen wir abschließend: »Braucht Europa mehr Demokratie?« Bedauerlicherweise lautet auchdie vierte Antwort: Nein! Europa und seine Einigung waren immer ein Projekt politischer Eliten. Führende Politiker von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle über Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing bis Helmut Kohl und François Mitterrand haben es vorangetrieben. Erst als man sich an die Menschen in Europa gewandt hat, seit der Einführung der Direktwahlen zum Europaparlament und den diversen Referenden zum Verfassungsvertrag, wurde deutlich, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen den politischen Entscheidern in Europa und seiner Bevölkerungen gibt. Nicht alles, was die Befürworter Europas in den vergangenen Jahrzehnten in die Tat umgesetzt haben, findet die ungeteilte Zustimmung der Menschen. Europa hat sich scheinbar in eine Demokratiefalle manövriert und dafür gibt es gute Gründe. Einer der wichtigsten dürfte darin bestehen, dass es einen geradezu fatalen Vermittlungsmechanismus gibt, der sich immer wieder beobachten lässt: Regierungsvertreter reisen nach Brüssel, vertreten dort nationale Positionen und Interessen, einigen sich auf Kompromisse und feiern sich selbst, wenn es ihnen wieder einmal gelungen ist, nationale Sonderinteressen durchzusetzen. Dann kehren sie in ihre Hauptstädte zurück und

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