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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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und floss etwas auseinander, da sie durch die Augenmuskulatur nicht mehr kreisförmig gehalten wurde. Die helle, beinahe türkise Iris, die die Pupille einrahmte, schimmerte wie das Innere einer Murmel. Harry hörte Jon hinter sich nach Atem ringen.
    »Ungewöhnlich blaue Iris«, sagte Harry. »Jemand, den Sie kennen?«
    »Nein, nein … ich weiß nicht.«
    »Hören Sie, Jon«, sagte Harry, ohne sich umzudrehen. » Ich weiß nicht, wie oft Sie das Lügen schon geübt haben, aber Sie können es nicht besonders gut. Ich kann Sie nicht zwingen, mir die pikantenDetails über Ihren Bruder zu erzählen, aber dies hier «, Harry zeigte auf den blutigen Augapfel, »... zwingt Sie, die Wahrheit zu sagen.«
    Er drehte sich um. Jon saß mit gesenktem Kopf auf einem Küchenstuhl.
    »Ich sie « Seine Stimme war tränenerstickt.
    »Also, sie «, half Harry.
    Jon nickte heftig mit gesenktem Kopf. »Sie heißt Ragnhild Gilstrup. Es gibt sonst niemand, der solche Augen hat.«
    »Und wie kann ihr Auge hierher gekommen sein?«
    »Ich habe keine Ahnung. Sie … wir … haben uns hier manchmal getroffen. Sie hatte einen Schlüssel. Was habe ich nur getan, Harry? Warum geschieht das alles?«
    »Ich weiß es nicht, Jon. Aber ich habe hier einen Job zu erledigen, und als Erstes müssen wir Sie irgendwo unterbringen.«
    »Ich kann zurück in den Ullevålsvei gehen.«
    »Nein«, platzte es aus Harry heraus. »Haben Sie einen Schlüssel für Theas Wohnung?«
    Jon nickte.
    »Okay, gehen Sie dahin. Halten Sie die Tür geschlossen und öffnen Sie niemand außer mir. «
    Jon ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen: »Harry? « »Ja?«
    »Muss das herauskommen? Das mit Ragnhild und mir? Ich habe sie nicht mehr getroffen, seit ich mit Thea zusammen bin.« »Dann ist das doch wohl kein Problem.«
    »Sie verstehen nicht«, widersprach Jon. »Ragnhild Gilstrup war verheiratet.«
    Harry nickte langsam. »Das achte Gebot?«
    »Das zehnte«, sagte Jon.
    »Ich werde das kaum geheim halten können, Jon. «
    Jon sah Harry überrascht an. Dann schüttelte er den Kopf. »Was ist?«
    »Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade wirklich gesagt habe«, sagte Jon. »Ragnhild ist tot, und ich denke nur daran, meine eigene Haut zu retten.«
    In Jons Augen standen Tränen. Und in einem wehrlosen Momentspürte Harry vollkommenes Mitleid. Nicht, wie er es für die Opfer oder für ihre Angehörigen empfand, sondern für diejenigen Menschen, die in einem herzzerreißenden Augenblick ihre eigene jämmerliche Menschlichkeit erkennen.
     
    *
     
    Manchmal bereute Sverre Hasvold die Entscheidung, sein Leben als Seemann gegen ein Dasein als Hausmeister in dem nagelneuen Mietshaus in der Gøteborggata 4 eingetauscht zu haben. Besonders an eiskalten Tagen wie diesem, wenn jemand anrief und sich beklagte, dass der Abfallschacht schon wieder verstopft war. Das geschah in der Regel einmal im Monat, und die Erklärung war immer die gleiche: Die Öffnungen auf jedem Stockwerk waren genauso breit wie der eigentliche Schacht. Da waren die alten Mietshäuser wirklich besser. Sogar in den Dreißigerjahren, als die ersten Abfallschächte gebaut worden waren, hatten die Architekten Verstand genug gehabt, Öffnungen mit kleineren Durchmessern zu bauen, so dass die Leute keine Sachen hineinstopfen konnten, die sich dann etwas weiter unterhalb verkanteten. Heutzutage dachten sie nur noch an Design und solchen Schnickschnack.
    Hasvold öffnete den Müllschlucker im dritten Stockwerk, steckte den Kopf hinein und schaltete die Taschenlampe ein. Er sah weiße Plastiktüten aufleuchten und erkannte, dass das Problem wie üblich zwischen der ersten und zweiten Etage liegen musste, wo der Schacht eine winzige Verengung hatte.
    Er ging in den Müllraum im Keller und schaltete das Licht ein. Es war so kalt und feucht, dass seine Brille beschlug. Er schauderte und griff nach der für diesen Zweck vorgesehenen, fast drei Meter langen Stahlstange, die an der Wand lag. Er hatte sogar einen Plastikball am Ende der Stange befestigt, damit er keine Löcher in die Müllsäcke stach, wenn er damit im Schacht herumstocherte. Es tropfte aus der Schachtöffnung. Ein regelmäßiges Klatschen auf die Tüten, die im Container lagen. Dabei stand in der Hausordnung klipp und klar, dass der Schacht nur für trockenen Abfall in gut verschlossenen Tüten geeignet war. Aber die Menschen nahmen keine Rücksicht darauf – nicht einmal die sogenannten Christen in diesem Haus.
    Eierschalen und leere Milchkartons

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