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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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auf dem Schoß. Zwanzig Minuten bis zur nächsten Abfahrt. Das war nicht tragisch, er hatte genug Zeit. Unmengen Zeit. Zu viel Zeit. Er starrte auf die Tunnelöffnung, aus der der nächste Zug kommen würde. Nachdem Sofia Roberts Wohnung verlassen hatte und er gegen Morgen endlich, endlich eingeschlafen war, hatte er einen Traum gehabt. Einen üblen Traum, in dem Ragnhilds Augen ihn angestarrt hatten.
    Er sah auf die Uhr.
    Jetzt hatte das Konzert im Konzerthaus begonnen. Und da saß die arme Thea nun ohne ihn und kapierte überhaupt nichts. Aber auch die anderen hatten keine Ahnung. Jon atmete in seine Hände, doch hier draußen kühlte sein feuchter Atem so schnell ab, dass sie nur noch kälter wurden. Er hatte so handeln müssen, eine Alternative gab es nicht. Denn die Dinge waren ihm über den Kopf gewachsen und außer Kontrolle geraten. Er durfte auf keinen Fall noch länger warten.
    Dabei war alles ganz allein sein Fehler. Er hatte in der Nacht mit Sofia die Beherrschung verloren, er hätte eigentlich darauf vorbereitet sein müssen. Bei all der Spannung, die herausmusste. Doch es hatte ihn so unheimlich wütend gemacht, dass Sofia alles ohne ein einziges Wort über sich hatte ergehen lassen, ja ohne einen Laut. Sie hatte ihn nur mit diesem verschlossenen, nach innen gerichteten Blick angesehen. Wie ein stummes Opferlamm. Da hatte er ihr ins Gesicht geschlagen. Mit der geballten Faust. Die Haut auf seinen Knöcheln war geplatzt, und er hatte noch einmal zugeschlagen. Dumm. Um sie nicht ansehen zu müssen, hatte er sie dann zur Wand gedreht und war erst nach der Ejakulation wieder zur Ruhe gekommen. Aber zu spät. Als sie ging, hatte er sie gemustert und erkannt, dass man ihr dieses Mal nicht glauben würde, wenn sie behauptete, gegen eine Tür gelaufen oder auf dem Eis ausgerutscht zu sein.
    Der zweite Grund, weshalb er verschwinden musste, war der seltsame Anruf, den er gestern bekommen hatte. Er hatte die Nummer überprüft. Sie stammte aus einem Hotel in Zagreb. Hotel International. Er hatte keine Ahnung, wie sie an seine Handynummer gekommen waren, denn die war nirgends registriert. Aber er wusste, was das zu bedeuten hatte: Mit Roberts Tod erachteten sie ihren Auftrag nicht als erledigt. So hatte er sich das nicht vorgestellt, und er begriff es auch nicht. Vielleicht würden sie einen anderen Mann nach Oslo schicken. Wie auch immer, er musste weg.
    Auf dem Flugticket, das er in aller Eile gekauft hatte, stand »Bangkok via Amsterdam«. Es war auf Robert Karlsen ausgestellt. Wie auch schon im Oktober das Ticket nach Zagreb. Und wie damals steckte auch in diesem Augenblick der zehn Jahre alte Reisepass seines Bruders in seiner Innentasche. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und der Person auf dem Passfoto war immens. Und dass man sich im Laufe von zehn Jahren veränderte, war jedem Passkontrolleur bewusst.
    Nachdem er das Ticket gekauft hatte, war er in die Gøteborggata gegangen und hatte einen Koffer und einen Rucksack gepackt. Das Flugzeug startete erst zehn Stunden später. In der Zwischenzeit hatte er sich in einer der sogenannten »teilmöblierten« Mietwohnungen der Armee in Haugerud versteckt, die gerade leer stand und für die er einen Schlüssel hatte. Die Wohnung war seit zwei Jahren unbewohnt und zeichnete sich durch einen Wasserschaden, ein Sofa und einen Lehnsessel, aus dessen Rücken die Polsterung quoll, sowie ein Bett mit einer fleckigen Matratze aus. An diesem Ort hatte sich Sofia jeden Donnerstagnachmittag um sechs einfinden müssen. Einige der Flecken stammten von ihr. Andere hatte er gemacht, wenn er allein dort gewesen war, wobei er immer an Martine gedacht hatte. Das war wie ein Hunger gewesen, der nur ein einziges Mal gestillt worden war. Nach diesem Gefühl hatte er seither gesucht und es erst jetzt, mit diesem fünfzehn Jahre alten kroatischen Mädchen, wiedergefunden.
    Dann hatte ihn eines Tages ein aufgebrachter Robert besucht und ihm erzählt, dass sich Sofia ihm anvertraut habe. Jon war so wütend geworden, dass er sich kaum hatte beherrschen können.
    Es war so … erniedrigend gewesen. Wie damals, als er als Dreizehnjährigervon seinem Vater mit dem Gürtel gezüchtigt worden war, weil seine Mutter Spermaflecken auf dem Bettzeug entdeckt hatte.
    Und als Robert damit gedroht hatte, ihn der Armeeführung zu melden, wenn er Sofia nur noch ein einziges Mal zu nahe kam, hatte Jon erkannt, dass ihm keine Alternative blieb. Es kam überhaupt nicht in Frage, die Treffen mit Sofia

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