Der erste Marsianer
Kartoffelfuhrwerk standen im Schatten der Bäume und stampften und peitschten mit den Schweifen. Eins von ihnen ließ geräuschvoll Wasser. Morlake unterbrach seine langsamen, rhythmischen Bewegungen mit Blicken zu dem herankommenden Wagen und seinen eigenen Gedanken.
Von den verschiedenen Zeitungsartikeln und Analysen, die er in der Gefangenenbücherei gelesen hatte, enthielt nur einer – so schien es wenigstens Morlake – eine vernünftige Grundidee: Der Zweck des atomaren Bombardements war nicht gewesen, die Nation zu vernichten oder zu besiegen, sondern einfach der, ihren politischen Charakter zu verändern. Nachdem die laute, interessierte, aufgeschlossene und politisch bewußte Bevölkerung der amerikanischen Metropolen beseitigt war, mußte die Macht dem politisch rückständigen, engstirnig-konservativen Element der Kleinstädte und des flachen Landes zufallen. Schon jetzt begannen alte Vorurteile aufzuleben. Der alte, tief eingewurzelte Rassismus erhob wieder sein Haupt. Im Süden war die weiße Mehrheit im Begriff, der schwarzen Minderheit die mühsam erkämpften Bürgerrechte wieder zu entreißen, und im ganzen Land verstärkte sich die offene und versteckte Diskriminierung der Farbigen und anderer ethnischer Gruppen wie den Mexikanern, Puertoricanern und Italienern. Und kaum jemand hatte den Mut, offen gegen solche Tendenzen aufzutreten.
Wurde der Feind in den nächsten Jahren nicht entdeckt, so konnte er damit rechnen, ungestraft zu bleiben. Nur drei Tatsachen waren über den Aggressor bekannt: er existierte; er hatte nirgendwo auf der Erde Anhaltspunkte hinterlassen, die ihn überführen könnten; und er hatte seine Atomraketen auf wenigstens eine Stadt senkrecht und aus ungewöhnlich großer Höhe fallen lassen.
Unglücklicherweise war Robert Morlake der einzige Mensch, der an diesen letzteren Punkt glaubte, und seine private Meinung war, daß die Raketen vom Mond abgefeuert worden seien. Morlake lächelte grimmig. Er konnte sich vorstellen, wie es ausgehen würde, wenn er andere Männer zu überzeugen suchte, daß sie auf den Mond gehen müßten, um die Identität ihres Feindes festzustellen.
„Morlake!“
Morlake richtete sich langsam auf, drückte eine Hand in sein schmerzendes Kreuz und drehte sich um. Es war der Korporal, der mit dem Sergeanten zum Wagen gegangen war. Der Fahrer war gerade dabei, seinen Wagen zu wenden.
„Ja?“ sagte Morlake.
„Du wirst im Büro verlangt. Du solltest heute morgen nicht zur Arbeit. Komm mit.“
Fünf Minuten später wußte Morlake, daß sich ihm eine Fluchtmöglichkeit bot.
Was geschehen war, entdeckte Morlake erst nach und nach. An der Ostküste hatte General Mahan Clark, ein überlebender Generalstäbler aus dem Pentagon, noch am Nachmittag des Angriffs das Kriegsrecht verhängt. In den folgenden drei Monaten hatte er täglich achtzehn bis zwanzig Stunden gearbeitet, um die desorganisierten Streitkräfte zusammenzufassen und wieder eine gewisse Ordnung in die öffentlichen Dienste zu bringen. Eisenbahn-, Telefon- und Telegrafenverbindungen wurden repariert, der Postdienst wieder aufgenommen und eine allgemeine Rationierung eingeführt. Zugleich wurde ein industrieller Zensus durchgeführt und eine Prioritätenliste für Rohstoffbelieferung und Warenerzeugung ausgearbeitet.
Nach zwei Monaten hatte Clark ein Bild von der verbliebenen Wirtschaftskraft des Landes. Industrien wurden in weitem Umfang koordiniert. Truppen patrouillierten Stadt und Land; eine nächtliche Ausgangssperre wurde verhängt; die Strafen für Plünderung und Brandstiftung wurden verschärft. Die Massenmorde an bekannten Kommunisten hörten auf. Menschen mit ausländischem Akzent wurden noch immer belästigt, mißhandelt oder gar umgebracht, aber die Fälle wurden von Tag zu Tag seltener.
Am fünfundachtzigsten Tag zog General Clark sich für drei Tage zurück, schlief und ruhte sich aus. Nach seiner Rückkehr ins vorläufige Hauptquartier bezog er ein neues Büro.
„Von nun an“, erklärte er in einer improvisierten Pressekonferenz, „werde ich alle Verwaltungsarbeit mit Ausnahme der wichtigsten Grundsatzentscheidungen delegieren und meine Aufmerksamkeit wieder mehr dem militärischen Bereich zuwenden. Ich bin Soldat, kein Politiker oder Verwaltungsbeamter. Für die Verteidigung unseres Landes ist es wichtig, zu wissen, was aus unseren militärischen Entwicklungsprojekten geworden ist, und wieviele von den damit beschäftigten Wissenschaftlern und Ingenieuren überlebt
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