Der erste Sommer
so was nicht!« Verärgert versuchte Martin, sie abzuschütteln, was die beiden verhinderten, indem sie ihn an den Handgelenken festhielten. »Lasst mich sofort los!«, fauchte er sie an. Er hatte sich geschworen, sich nie mehr von Soldaten anfassen zu lassen.
Sie rangelten, wie in einem Spiel, das einen Moment später in rohe Gewalt umschlug. Der eine Soldat drückte Martins Kopf nach unten, während der andere ihm die Arme schmerzhaft auf den Rücken drehte und der dritte die Hände um seinen Hals legte und zudrückte. Andras flüsterte dem Anführer etwas zu.
»Genug!«, rief dieser daraufhin. »Wir wollen unseren Landsmann nicht zum Krüppel machen. Einer reicht in unseren Reihen.«
Die Soldaten ließen Martin los, der sich schwer atmend die Decke herunterriss und Hilfe suchend umsah.
»Musst gar nicht schauen: von der Militärpolizei ist niemand hier«, brummte der, der ihm die Arme verrenkt hatte, und hielt ihm versöhnlich die Hand hin.
»Razzia war um Viertel nach fünf. Die nächste beginnt erstin einer Dreiviertelstunde. Sie sehen, wir sind bestens informiert«, erklärte Georg und wandte sich wieder an die alte Frau. »Aber jetzt zu Ihnen, Gnädigste. Haben Sie sich entschieden?«
Diese schwankte nach der brutalen Auseinandersetzung zwischen dem Impuls wegzulaufen und der Faszination, die die Vorführung mit dem Fläschchen auf sie ausgeübt hatte.
»In Gottes Namen, dann nehme ich halt zwei davon!«
»Und was haben Sie im Gegenzug zu bieten?«, fragte der Doktor mit dem kühlen Gebaren eines Geschäftsmannes.
»Ja mei, Knöpfe hätte ich halt.«
»So was brauchen wir nicht. Und sonst?«
»Eine Gans. Aber nur, wenn ich dafür vier Fläschchen bekomme!« Aus ihrem Rucksack zog sie ein ungerupftes totes Federvieh. Die Soldaten applaudierten begeistert.
Martin hatte sich unterdessen unbemerkt davongestohlen. Unter dem Bogen des Sendlinger Tors trat er zu Anne, die auf ihn gewartet zu haben schien.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie, als er sich den geröteten Hals rieb.
»Oh, nur eine kleine Rauferei unter Freunden«, sagte er. Sie hatte doch sicher beobachtet, was vorgefallen war. Warum fragte sie, als wäre sie blind?
»Du hast hier schon Freunde, obwohl wir gerade erst angekommen sind?«
»Wir sind alle Soldaten«, antwortete er.
»Aha«, antwortete sie lakonisch und wechselte dann unvermittelt das Thema. »Kommst du mit tanzen? Eben habe ich von einem Lokal ganz in der Nähe meiner Wohnung erfahren. Ich muss mich heute Abend bewegen, sonst platze ich.«
Ihre Aufdringlichkeit hatte etwas Getriebenes. Aber mit ihr würde er leichter fertig werden als mit diesem streitsüchtigen Wehrmachthaufen.
»Gelegenheit zum Schnarchen wirst du heute Nacht keine haben.«
Wieder war in ihrer Stimme der drohende Ton.
»Woher willst du wissen, ob ich schnarche oder nicht?«, fragte Martin grinsend zurück.
»Ich habe die letzte Nacht auf der Bank neben dir verbracht. Aber heute tanze ich, heute ist mir egal, wer du …«
»Dir habe ich also die Decke zu verdanken!«
»Wenn du nicht geschnarcht hättest … Schau nicht so blöd.« Sie lachte, als sie sein irritiertes Gesicht bemerkte, wurde gleich darauf aber wieder ernst. »Du bist kein Amerikaner. Und du entkommst mir nicht. Ich weiß, wer du in Wirklichkeit bist.«
»Dann weißt du mehr als ich … Meine Erkennungsmarke brauche ich dir also nicht zu zeigen, aber vielleicht das, was ich in der Unterhose habe?«
Anne wich einen Schritt zurück, als sie Martin die Hand heben sah. Doch er fasste sich nur in den Ausschnitt seines Hemdes – und fluchte. Man hatte ihm seine Erkennungsmarke gestohlen. Blitzschnell drehte er sich um und rannte zurück zu der alten Frau, die glückselig lächelnd ihre schmerzenden Handgelenke mit dem Wunderelixier bestrich.
»Es wirkt«, strahlte sie ihn an, »ich spüre es schon. Wollen Sie auch? Für einen anständigen Preis würde ich Ihnen ein Fläschchen abgeben.«
Die vier Soldaten und Andras waren indes spurlos verschwunden. Und mit ihnen der letzte Beweis für seine amerikanische Nationalität. Außer Atem ließ Martin sich auf einen Trümmerblock sinken. Ratlos blickte er Anne an, die ihm gefolgt war und nun spöttisch den Mund verzog.
»Du kommst jetzt mit mir«, bestimmte sie.
6
»Da ist unser Todesengel ja wieder! Willst dir wohl eine Belohnung für deine Leiche abholen?« Ewald wurde unsanft hochgehoben. Der kräftige Schutzpolizist drückte seine Hände um Ewalds Arme, dass es wehtat.
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