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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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nestelte an ihrem Rocksaum herum. Schließlich steckte sie ihn sich in den Mund und flüsterte kauend:
    »Aber ich hab was zu essen für euch beide. Ich bin keine Bestie wie eure Mutter. Ich hab auch ein Kind gehabt. Ein echtes.« Sie stockte und begann zu heulen. »Ich möchte allen Kindern auf Gottes Erde eine gute Mutter sein.«
    Aus einer in ihren Unterrock genähten Tasche zog sie zwei Semmeln und eine Ecke Käse, die sie Ewald hinhielt. Katharina nahm sie ihm weg und riss ihm ein Stück ab.
    »Der Rest wird aufgehoben.«
    Ewald schob es sich in den Mund und kaute darauf herum, bis er seinen Gedanken formulieren konnte.
    »Vielleicht sucht Mama ja Papa«, erklärte er zaghaft.
    »Hast du nicht gehört, dass sie nach Süden abgehauen ist? Russland liegt im Osten.« Die Lüge, dass ihr Vater in Russland sei, hatte Katharina sich einfallen lassen, um Ewalds Fragen abzuwürgen, warum er nicht zurückkäme.
    »Aber sie kommt doch bald wieder, oder?«
    Katharina sah Ewald von oben herab an. »Ich würde nicht zurückkommen an ihrer Stelle.« Sie hielt inne und seufzte gekünstelt. »Jetzt hast du es endgültig geschafft, unsere Familie kaputt zu machen. Nun hast du neben der Prinzessin auch noch unsere geliebte Mutter auf dem Gewissen. Zur Strafe musst du ein Jahr im Stehen schlafen.«

7
    »Wo hast du Deutsch gelernt?«
    Martin konnte Anne wegen der ohrenbetäubenden Musik kaum verstehen. Nun wollte sie also doch reden. In den vergangenen Stunden war ihr das Tanzen wichtiger gewesen.
    Die Wände im ehemaligen Schlachtraum einer Metzgerei waren hüfthoch mit gelben Kacheln gefliest. Auf der weiß gekalkten Wand darüber stand ein mit Kohle gezeichneter üppiger Urwald aus Blättern und Lianen in sonderbarem Gegensatz zu den Fleischerhaken, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen. Um in den improvisierten Tanzsaal zu gelangen, mussten die Besucher – sonst hauptsächlich Frauen und amerikanische G. I.s – durch ein großes Loch in der Decke über eine Holzleiter herunterkletterten. Der Eingang im Hof wie auch das Treppenhaus und der Verkaufsraum waren verschüttet.
    Seit drei Wochen wurde hier jeden Abend getanzt. Die kleine Jazzband setzte sich aus drei Musikern zusammen. Den Kontrabass spielte ein Beamter der bayerischen Finanzverwaltung, der dabei sein linkes Auge zusammen kniff, als wäre er kurzsichtig. Ihm kam nun zugute, dass er mit seinem Weltempfänger im Wochenendhäuschen am Ammersee jahrelangden amerikanischen Jazzikonen gelauscht hatte. Das Klavier mit Einlegearbeiten aus kostbarem Nussbaumholz, das mit viel Mühe und einem Kran in den Raum herabgelassen worden war, traktierte eine verschleiert dreinblickende Englischlehrerin, die der Krieg um Wohnung und Katze gebracht hatte. Es war im Diskant verstimmt, so dass sie mit der linken Hand nur einige versprengte Akkorde anschlug, während sie sich mit der rechten immer wieder an einem Ekzem in der Leiste kratzte. Zwischen ihnen stand ein Master Sergeant mit Tenorsaxophon. Vor jedem Einsatz blies er dreimal die Backen auf und zog dabei die Nase kraus, was den Bassisten immer in Rage brachte. Der Amerikaner fühlte sich neben der Musikauswahl auch für die Verlängerung der Konzession verantwortlich. Was für ihn bedeutete, im Offizierskasino mit hektographierten Zetteln für die Tanzabende zu werben. Ausdrücklich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fiel das Einhalten der Sperrzeit, so dass die Tanzabende in der Regel erst mit Sonnenaufgang endeten. Auch die Anti-Fraternisierungsbestimmungen waren angesichts der Platznot nicht durchzusetzen. Zumindest drückte er beim Spielen beide Augen zu …
    Die beiden Männer waren in die Englischlehrerin verliebt und warben mit ausufernden solistischen Einlagen um sie. Die Frau ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und begleitete sie stoisch mit Arpeggiaturen. Erst wenn das Publikum zu applaudieren begann, lächelte sie dem jeweiligen Solisten kurz zu. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, ihre Gunst gleichmäßig auf die beiden zu verteilen.
    An diesem Abend war es voller als sonst. Der kleine Raum roch nach Schweiß und alten Turnschuhen. Die meisten Gäste, zum ersten Mal mehr junge Männer als Frauen, trugen Trikots und kurze Sporthosen. Sie kamen unmittelbar von der Gründung des Sportbundes, noch ganz berauscht von demfeierlichen Moment. Turner waren darunter und Leichtathleten sowie einige Schwimmer mit breitem Rücken. Die Stimmung war an dem lauen Juliabend trotz fehlenden Alkohols

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