Der erste Sommer
Die umstehenden Polizisten lachten. »Das nächste Mal bringst du uns aber eine echte Julia und keinen verkleideten Romeo!«
»Ach, Wilhelm, du würdest im weißen Seidenkleidchen auch ’ne gute Figur abgeben«, warf ein Kollege ein und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.
»Finger weg, sonst bring ich dich um«, zischte Wilhelm ihm zu, so dass der andere erschreckt einen Schritt zurücktrat und abwehrend die Arme hob. »Ich bin nicht abartig. Und wenn ich’s wäre, würde ich mich nicht in einer dreckigen Brühe ertränken, sondern in deinem Blut.« Seine Kollegen lachten schwach, meinte er das ernst? »Einer weniger von dem Gesocks schadet nicht.«
»Was für ein Gesocks?«, stammelte Ewald, der sich in den Armen des Schutzpolizisten nicht zu bewegen traute. Warum war seine Schwester nur auf die Idee gekommen, einen Finderlohn für die Prinzessin einzufordern? Wie üblich hatte sie ihn vorgeschickt.
»Rattenscheiße.« Wilhelm atmete Ewald ins Gesicht. Als dieser angeekelt das Gesicht verzog, ließ er ihn herunter. »Die frisst der Teufel im Krieg. Und hin und wieder verspeist er auch einen kleinen Rotzlöffel wie dich!«
Ewald wollte instinktiv weglaufen, Wilhelm hielt ihn aber am Hemdkragen fest.
»Hat uns genug Ärger gemacht mit seiner Leiche, der Kleine hier. Was hat er denn da in seinem Glas?« Er entwand Ewald das Einweckglas, das dieser fest an sich drückte. »Zigarettenstummel! Nicht schlecht, Kleiner. Weißt du, dassman aus sieben eine neue drehen kann?« Wilhelm öffnete den Verschluss und schüttete die Stummel auf den Boden. »Als Erstes muss man sie platt treten, damit der Tabak Münchner Geschmack annimmt.«
Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah Ewald zu, wie der Absatz des schweren Stiefels die Kippen in den Staub malmte. Wilhelm sah sich um, ob seine Kollegen die Botschaft verstanden: er würde sich nicht von ihnen beleidigen lassen. Sie verstanden.
»Eins sag ich dir, mein kleiner Stinker, du machst mir nicht noch mal Ärger. Ich hab keine Lust, nächtelang einem solchen Schwein nachzuforschen. Dafür war ich nicht bis zum letzten Tag an der Front!« Die letzten Worte schrie Wilhelm fast.
»Komm, reg dich nicht auf«, versuchten ihn seine Kollegen zu beruhigen, »der Kleine hat doch nicht wissen können, dass die tote Sau unter ihrem Kleidchen einen Schwanz hatte!«
»Und was für einen!«
Katharina beobachtete ihren Bruder von der anderen Seite der Maximilianstraße aus. Die Ausbeute von zwei Tagen harter Arbeit steckte in dem Glas. Zwei volle Tage, die sie amerikanische Soldaten verfolgt hatten. Zwei Tage, während deren sie andere Kinder weggestoßen, mit einem rothaarigen, zerlumpten Mädchen gerauft und eine Ohrfeige von einem alten Mann kassiert hatte. Zornesröte schoss ihr ins Gesicht.
»Ich lass ihn ja«, maulte Wilhelm unterdessen seine Kollegen an, »aber der macht mir nicht meine Zukunft kaputt. Der nicht. Ich habe eine ehrbare Familie. Was sollen meine Kinder von mir denken, wenn ich mich mit solchem Pack abgebe? Also Kleiner: Wenn du uns noch ’ne Leiche im Fummel anschleppst, zerleg ich dich und konservier dich in dem Glashier.« Er drehte sich um und verschwand in der Bretterbaracke vor dem »Hotel Vier Jahreszeiten«, das hochrangiges amerikanisches Militär in Beschlag genommen hatte.
»Glaubt ihr, dass Wilhelm wirklich Erfahrungen mit solchen hat?«, fragte der jüngste Polizist in die Runde.
»Du müsstest mal hören, wenn er besoffen vom Krieg anfängt. Echte Kameradschaft bis in den Tod und so ’nen Kram.«
»Und ’ne Schwäche für die ganz große Oper hatte Wilhelm auch schon immer«, bemerkte ein Kollege und wandte sich an den vor Schreck erstarrten Ewald: »Wo wohnst du, Kleiner?«
»Zu Hause.«
Sie lachten. Die Spannung hatte sich gelöst. Der jüngste Polizist beugte sich zu Ewald.
»Wie alt bist du?«
»Fünf.« Ewald überlegte und korrigierte sich: »Bald sechs.«
»Und wo ist deine Mutter?«
»Zu Hause. Das da ist meine Schwester. Sie weiß alles und man darf sie nicht reizen. Sie hat immer viel zu tun.« Ewald zeigte mit dem Finger auf Katharina.
Hatte sie ihm nicht schon tausendmal verboten, mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen? Die ganze Erziehung blieb ihr überlassen. Da sie nun aber schon einmal entdeckt war, überquerte sie die Straße und baute sich neben ihrem Bruder auf.
»Wenn das die neue Zeit ist, dass man uns die Ersparnisse wegnimmt, dann kann ich darauf verzichten«, fauchte sie wütend.
Wieder lachten die
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