Der erste Sommer
Polizisten, lachten sie aus.
»Oho, das junge Fräulein ist empört. Wollt ihr zum Trost vielleicht etwas Schokolade?«, fragte der jüngste Polizist und gluckste.
Katharina sah ihren Bruder an, der bei dem Wort »Schokolade« augenblicklich die Zigarettenstummel vergaß und glückselig strahlte.
»O ja, bitte«, sagte er schüchtern.
»Dann geht zu unseren Befreiern ins Hotel. Schwarze Scheiße haben die im Überfluss.«
Katharina blickte ihn giftig an. Begleitet vom dröhnenden Gelächter der Polizisten zog sie ihren Bruder mit sich fort.
Vor dem leeren Sockel auf dem Marienplatz blieb Ewald stehen und faltete die Hände.
»Komm schon«, trieb Katharina ihn an und warf einen Blick auf die amerikanischen Soldaten, die vor dem Rathaus auf und ab patrouillierten. Ewald lief ihr nach und zog sie so fest am Ärmel, dass sie verärgert stehen blieb.
»Ich weiß es«, sagte er und deutete hinter sich auf den leeren Sockel. »Unsere Prinzessin aus dem Teich hat dort oben gestanden. Da stand ein Bild von ihr zwischen den Kerzen! Wir haben sie tot gemacht.«
»So ein Quatsch«, sagte Katharina schnell. »Die Figur ist schon seit Jahren weg. Da warst du noch nicht einmal auf der Welt. Außerdem hatte sie kein weißes, sondern ein goldenes Kleid an.«
»Vielleicht musste sie beim Fliegeralarm in den Keller und ist dabei aus Versehen ins Wasser gefallen.« Ewald hüpfte um seine Schwester herum.
Unwirsch zog Katharina ihn weiter. Doch kurz bevor sie in die Rosenstraße einbogen, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück auf den Platz. Wie dumm ihr Bruder doch war, dass er nicht einmal wusste, dass Gold nicht auf dem Wasser trieb, sondern von Schmugglern und Blockadebrechern vom Meeresgrund heraufgeholt werden musste …
Daheim riss sie die zweiflüglige Tür auf und schob den widerstrebendenEwald hinein. Fast alle waren bereits von ihren Streifzügen durch die Stadt zurück. Mit einem Blick stellte Katharina fest, dass sich wie immer nur eine verspätet hatte: ihre Mutter. Am Kopfende des Tisches in der Mitte des Raumes saß ein alter Mann. Er trug eine Uniform aus dem Ersten Weltkrieg und hielt den Kopf tief gesenkt, um das Zittern zu verbergen. Neben ihm hockte eine Siebzehnjährige mit angezogenen Beinen auf einem Sessel, dessen Lehnen nur noch verkohlte Stümpfe waren. Sie hatte sich den Mantel des Alten um die Schultern gelegt. Ihr Kleid war ein mit bunten Stofffetzen verlängertes Männerjackett. Zwischen den Aufschlägen konnte man ihre Unterwäsche sehen und die Strumpfbänder, die auf der Haut rote Striemen hinterließen, als hätte man sie geschlagen. Katharina hatte sie noch nie gesehen. Wieder eine Neue also, eine, die nicht wusste, wer wo schlief oder wann das Anrecht auf das einzige Waschbecken hatte. Wieder ein Flüchtling mit einem hungrigen Maul mehr. Die Bänke an den beiden Längsseiten des Raumes waren bereits mit Schlafenden belegt. Unruhig wälzte sich ein Paar hin und her. Der Mann hatte die Hand unter den Pullover der Frau gesteckt. Katharina sah schnell zu Ewald, aber der starrte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, übermüdet zu Boden.
Punkt neun flog die Tür auf. Eine Betrunkene hielt sich am Türrahmen fest. Sie blieb dort stehen und begann zu schreien, laut und durchdringend. Das Mädchen mit dem Jackettkleid stand auf und schlug ihr ins Gesicht. Augenblicklich hörte die Betrunkene auf, sank in die Hocke und wimmerte:
»Ach Hans, sei doch lieb zu deiner Maus.« Niemand ging darauf ein. Da entdeckte sie Katharina und sagte plötzlich völlig klar: »Jetzt ist sie weg. Das verdammte Stück. Ihr seid jetzt auch allein.« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die Kinder. »Geschieht euch recht.«
Katharina packte Ewald am Kragen, der sich auf die Betrunkene stürzen wollte.
»Ich werde Ihrem Mann mitteilen, dass Sie trinken, falls er zurückkommt aus der Ukraine. Aber ich vermute schon länger, dass er einen Bauchschuss abbekommen hat.«
»Du Biest! Eure Mutter hat sich verabschiedet. Erster Klasse Richtung Süden. Hat den erstbesten Zug genommen, und weg war sie.«
»Wieder ein Esser weniger am Tisch des Herrn«, erwiderte Katharina ungerührt.
»Glaubt es oder glaubt es nicht, das Miststück ist weg. Sie schuldet mir im Übrigen noch einen Satz Unterwäsche, aber die hol ich mir von euch.«
Ihre Stimme war wieder so laut geworden, dass das Mädchen mit dem Jackettkleid sie anfauchte, endlich die Klappe zu halten. Schlagartig verstummte die Betrunkene und
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