Der erste Sommer
dass es mit ihr kompliziert würde.
Also kehrte er in den Tanzraum zurück und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Der Kontrabassist rückte seinen Hocker gerade näher zum Klavier, was der amerikanische Saxophonspieler eifersüchtig beobachtete. Kurz entschlossen schob er mit dem Fuß seinen Stuhl auf die andere Seite des Klaviers und stieg darauf, ohne sein Solo zu unterbrechen. Nach der Schlusskadenz funkelte er seinen Kontrahenten herausfordernd an. Das Publikum pfiff und grölte.Der Kampf um die Gunst der Englischlehrerin war niemandem entgangen.
Martin fand Anne schließlich in dem von Beifuß und Ackerwinden überwucherten Hinterhof. Eine überdimensionale Putte streckte ihren Hintern aus einem Trog mit Gemüse. Auf ihre rechte Pobacke war ein Herz gemalt. Die kühle Brise tat nach dem stickigen Raum gut. Anne hockte auf der Kante und streichelte den Kopf der Putte. Ihre Hände waren voller Erde. Martin setzte sich neben sie.
»Was ist los? Kannst du nicht mehr?«
Aus der Metzgerei drang gedämpft anfeuerndes Gejohle. Anne achtete nicht auf den Lärm, sondern flüsterte tonlos, so dass Martin sie nur bruchstückhaft verstand.
»Die Bäume haben geblüht. Da hingen sie drin wie frühreife Zwetschgen. An Stricken für Schlachtvieh aufgeknüpft … Und sie bewegten sich hin und her im Wind, hin und her … Leopolds Schnürsenkel waren offen. Warum hat sie ihm niemand gebunden? Die Leute haben sich gefragt, warum seine Verlobte nicht besser auf ihn Acht gegeben hat.« Sie biss sich auf die Lippen und fuhr mit klarer Stimme fort. »Es stimmt, ich habe nicht auf ihn aufgepasst. Ich war zu sehr mit meinen eigenen Plänen beschäftigt … Einfach aufgehängt.« Plötzlich schrie sie. »Wie nasse Wäsche!«
Martin schüttelte sie. Mit einem Ruck entzog sie sich ihm.
»Sie sind noch nicht einmal drei Monate unter der Erde, und ich tanze hier …« Mit dem Handrücken schlug sie sich auf den Mund. »Ich bin betrunken. Magst du Zwetschgen?«
»Betrunken? Von der Molke?«
»Vom Leben. Von meinem jämmerlichen Leben.«
Aus dem Loch, das zum Schlachtraum hinabführte, kletterten einige Turner. Einer rief ihnen im Vorbeigehen zu: »Wer fraternisiert, wird erschossen!« Anne rückte unwillkürlich näher an Martin. Unten setzte die Kapelle zu einerletzten Nummer an. Er legte ihr seine Jacke um die Schulter.
»Du zitterst ja. Ist dir kalt?«
Anne sprang auf, schleuderte die Jacke zu Boden und spuckte darauf.
»Wage es nicht, wage es nicht noch einmal!«, zischte sie ihn an, gab ihm einen heftigen Schubs, dass er taumelte, und rannte an ihm vorbei auf die Straße.
Martin schüttelte ungläubig den Kopf. Die Frau war eindeutig verrückt. Oder verzweifelt. Egal was, in diesem Zustand konnte man sie nicht alleine lassen.
Licht gab es in dem Treppenhaus nicht. Wie ein Blinder tappte Martin Anne auf der Holztreppe nach. Sie summte Bruchstücke der Melodie, mit der sich die Kapelle vorgestellt hatte. Immerhin war sie wieder ruhig, nach außen zumindest. Es war die amerikanische Hymne. Martin korrigierte sie pfeifend. Sie umklammerte das Geländer, als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass er ihr gefolgt war.
»Wohnst du im Treppenhaus?«, fragte Martin, als er hinter ihr stand.
»Du verfolgst mich also. Nun gut, du hast es so gewollt.«
Die Wohnungstür im dritten Stock war nicht abgesperrt, wieso auch, zu holen gab es sowieso nichts mehr. Nur in einem der Zimmer hätte man noch das eine oder andere entwenden können. Und dieses war aus guten Gründen abgeschlossen. Den Schlüssel dazu trug Anne an einem Lederband um den Hals.
»Hier wohne ich«, sagte sie müde, als sie die Tür aufdrückte. »Sei leise. Der Hausmeister hört alles. Er hat Ohren wie eine Katze.«
»Ist das deine Wohnung?«
Anne zögerte. »Nein … ich passe nur auf, dass sich hiersonst niemand einquartiert.« Stolz fügte sie hinzu: »Der Schutt stand einem vor drei Wochen noch bis zu den Knien.«
»Für wen tust du das?«, fragte er.
Sie zog ihn am Ärmel in die Wohnung und schob ihn vor sich her durch einen schmalen, stockfinsteren Flur.
»Für die Toten.«
»Für wen, sagst du?«, wiederholte Martin unaufmerksam, sich unsicher vortastend. Dabei stieß er gegen einen Blecheimer, der scheppernd umfiel.
»Halt«, sagte Anne. Martin hörte, wie sie sich an einem Schloss zu schaffen machte und dann eine Tür öffnete. »Du schläfst hier.«
Sie ließ ihn eintreten. In dem Zimmer roch es so intensiv nach Laub und Moos, dass
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