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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Martin sich für einen Augenblick wieder auf der Anhöhe bei Tutzing wähnte. Das war erst gestern gewesen. Warum zündete sie nicht wenigstens eine Kerze an? Vergeblich wühlte er in seinen Hosentaschen nach einer Streichholzschachtel.
    »Leg dich ins Bett, ich komme später wieder. Dann reden wir.«
    Anne zog die Tür hinter ihm zu und sperrte von außen ab. Ein Bett! Es war das erste, seit … Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, zählte er die Wochen, bis er an einen Bettpfosten stieß. Er tastete sich an der Längsseite entlang und ließ sich angezogen auf die Matratze fallen. Das Gestell knarrte Furcht einflößend. Martin lauschte, doch jenseits der Tür war nichts zu hören. Der Geruch nach Wald und Wiese hatte sich verflüchtigt, wahrscheinlich hatte er sich bereits daran gewöhnt. Zur Seite rollend zog er unter sich eine dicke Decke vor und verkroch sich darunter. Irgendwo zwitscherten die ersten Vögel.

8
    Der Atem des Mannes roch nach billigem Fusel. Katharina holte tief Luft und kroch unter die lange Bank im Wartesaal des Hauptbahnhofes. Doch er hatte gar nicht geschlafen, sondern fingerte stattdessen an ihrem Hintern herum.
    »Na, kleine Schnecke, leg dich doch lieber auf mich, da hast du es schön weich.«
    Sie ignorierte die Hand und tastete nach ihren Sachen. Aber die waren verschwunden, wahrscheinlich mit der Mutter. Das Einzige, was sie fand, war ihr zerlesenes Buch. Sie griff erleichtert danach. Das Wichtigste hatte Mutter vergessen. Das sah ihr ähnlich. Auf sie war schon in den Nächten im Luftschutzkeller kein Verlass gewesen. Katharina war es, die ihre Mutter bei den Bombenabwürfen trösten musste, während ihr Bruder ungerührt jede Detonation mit einem Strich auf der Wand festhielt.
    Langsam robbte sie rückwärts zurück, stand auf und klopfte ihren verstaubten Rock neben dem Mann auf der Bank aus, bis er niesen musste. Mühsam richtete er sich auf. Schnupftabak hing ihm in den Nasenlöchern. Er wischte ihn sich mit dem Hemdsärmel ab und wollte ihr über die Wange streichen. Mit dem dicken Wälzer schlug sie auf seine verkrümmten Finger.
    »Man fasst keine Dame mit ungewaschenen Händen an, merken Sie sich das, Sie Bauerntrampel!«
    Trotz des Schmerzes lachte der Mann. Er konnte gar nicht mehr aufhören und stand schließlich auf, um Luft zu bekommen.
    »Du bist ein Rassemädel, so eine wie dich, und man braucht keinen Ofen mehr, um es immer schön heiß zu haben.«
    Katharina drehte sich wortlos um.
    »Komm, wir gehen«, befahl sie ihrem Bruder, der mit offenen Augen schlief. »Anständige Leute gehören hier nicht her.«
    Sie rüttelte ihn und zog ihn mit sich. Vor der Tür stiegen sie über die Beine der betrunkenen Frau. Ihr Rock war hochgerutscht. Sie trug nicht einmal eine Unterhose. Die Frau blinzelte und lallte:
    »Aber kommt bald wieder, ihr Süßen, ich muss euch noch sagen, mit wem eure gottverdammte Hurenmutter sich davongemacht hat. Au, du kleine Göre, von dir lasse ich mich nicht treten.«
    »Wahrscheinlich hat sie Mutters Unterwäsche auch schon versoffen«, bemerkte Katharina kühl.
    Es war kurz vor halb zehn, nur noch wenige Minuten bis zur Sperrstunde, als sie auf der Nordseite aus der Bahnhofshalle traten. Die Silhouetten der zerstörten Züge zeichneten sich dunkel vor der untergehenden Sonne ab. Es roch nach Rost und Öl. Manche Schienenstränge waren von der Wucht der Bombeneinschläge in die Luft gebogen.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Ewald müde.
    »Wir gehen so lange nach Westen, bis wir etwas Besseres finden«, entgegnete seine Schwester bestimmt.
    Also bogen sie parallel zu den Schienensträngen in die Arnulfstraße ein. Nach hundert Metern drehte sich Katharina um. Ihr Bruder trödelte wie immer weit hinter ihr her.
    »Hier gibt es Wölfe, habe ich gelesen«, trieb sie ihn an. Ewald sah sie ungläubig an, folgte ihr aber ein wenig dichter.
    »Aber der Wolf ist doch tot. Er hat Steine im Bauch. Katharina! Ich weiß jetzt, wer die Prinzessin umgebracht hat: es waren die Russen!«
    Katharina achtete nicht auf sein Geschwätz. Sie hatte genug um die Ohren. Bei jeder Straßenkreuzung spähte sievorsichtig um die Ecken, um nicht einem deutschen Schutzpolizisten zu begegnen. Mit den Amerikanern wurde sie fertig. Sie musste nur ihren Bruder vorschieben und sich ein bisschen in den Hüften wiegen, schon bekam sie von den Jungens, was sie wollte. Es waren auch nur Kinder. Große, starke Kinder. Mit den einheimischen Schutzpolizisten hingegen gab es immer

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