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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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ausgelassen wie noch nie.
    »Ich möchte wissen«, fragte Anne während einer Musikpause so laut, dass sich die Umstehenden zu ihr umdrehten, »warum du so gut Deutsch sprichst, wenn du angeblich Amerikaner bist.«
    » Ma chérie , isch be’errsche jede Sprache. Vor allem die Sprache de l’amour .«
    Ein hochgewachsener Sportler, der mit durchgedrücktem Rücken neben ihnen stand, verschüttete vor Lachen fast sein bläulich schimmerndes Glas Molke, das er wie eine Fackel umklammert hielt. Martin zwinkerte ihm zu.
    »Du bist entweder ein Angeber oder ein Betrüger«, stellte Anne ohne jede Spur von Belustigung fest.
    »Was wäre dir denn lieber?«, fragte Martin.
    »Ein Betrüger«, antwortete sie ohne nachzudenken. »Mit denen werde ich fertig. Mit Angebern nicht.«
    Die Musik setzte wieder ein. Sofort waren alle Frauen vergeben. Zwei Turner demonstrierten der Englischlehrerin, dass sie auch im Handstand Foxtrott tanzen konnten und trieben mit ihrer jugendlichen Kraft die beiden eifersüchtigen Musiker fast zur Raserei.
    Martin umfasste Anne und schob sie zur Tanzfläche. Beim Tanzen verlor ihr Gesichtsausdruck alle Härte. Ihr Haar duftete nach frischem Heu. Er führte sie mit sanftem Druck. Die anderen Frauen sahen neidisch auf Anne, die so tat, als merkte sie es nicht. Er war eine gute Partie, die beste Wahl im Saal.
    »Die Preußen haben uns das ganze Fleisch abgezogen. Damit sie die Meisterschaften gewinnen«, flüsterte ihm ein Turner verschwörerisch ins Ohr. Martin drehte sich überraschtum. Doch der Sportler im weißen Unterhemd hatte sich schon weiter durch die Tanzenden geschlängelt.
    »Was habt ihr nur gegen die Preußen?«, fragte Martin seine Partnerin.
    Anne sah ihn fest an. »Glaubst du, es wäre mit Bayern allein so weit gekommen? Wir hätten uns anno Neunzehn vom Deutschen Reich lossagen sollen. Was uns da alles erspart geblieben wäre …« Sie überlegte einen Augenblick. »So redet man hier halt … schon immer.«
    »Und wir Amerikaner sind in euren Augen nicht besser als die Preußen. Kann ich trotzdem bei dir übernachten?« Er drückte Anne fester an sich, um sie gleich darauf wegzustoßen und einmal um die eigene Achse zu wirbeln.
    »Wir haben noch nicht abgerechnet. Reicht das als Antwort?«
    »Ja.« Martin grinste.
    »Lass das Grinsen und tritt mir nicht immer auf die Zehen. Im Übrigen«, fuhr sie so beiläufig wie möglich fort, »ich stamme aus Penzberg … P-e-n-z-b-e-r-g.« Ihre Augen funkelten.
    »Und?«
    »Das sagt dir gar nichts?«
    Martin blieb ihr die Antwort schuldig. Er nickte der Englischlehrerin am Klavier zu, die daraufhin die Melodie eines rührseligen Volksliedes intonierte. Der Bassist spann sie fort. Der amerikanische Sergeant, der das Stück nicht kannte, ließ sein Instrument sinken und lauschte. Erst bei der Wiederholung des Refrains setzte er ein und improvisierte über das Motiv mit einer nicht enden wollenden Kaskade an Verzierungen. Martin packte Anne eng um die Taille, worauf sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken ließ. Morgen war auch noch ein Tag. Sie schloss die Augen und überließ sich der Musik. Unmerklich waren die drei Musiker vom Volksliedzu einem langsamen Walzer übergegangen. Der sonst steif durchgedrückte Rücken der Klavierlehrerin rundete sich weich wie der einer Katze, der Finanzbeamte ließ bei jedem Auftakt leise die Zunge schnalzen, und der Amerikaner sank fast auf die Knie, als wollte er die aus seinem Saxophon quellenden Töne wieder einfangen. Niemanden hätte es in diesem Augenblick gewundert, wenn die Wände der Metzgerei wie durch Zauberhand verschwunden wären, um den Blick freizugeben auf die sanft heranrollenden Meereswogen am Strand einer zauberhaften Insel. Anne wiegte sich in Martins Armen, als gäbe es keinen anderen Ort der Seligkeit.
    Doch von einem Moment auf den anderen riss sie sich los und stürzte davon. Verblüfft sah Martin ihr hinterher, bis sein Blick an dem Sportler mit dem Molkeglas hängen blieb, der direkt vor ihm stand und auf Martins Uniformjacke deutete, die an der Schulter nass geheult war. Er schubste ihn beiseite und kämpfte sich durch die Tanzenden zum Podium mit den Musikern. Dahinter führte eine offen stehende Verbindungstür in den ehemaligen Kühlraum der Metzgerei, der nur von einigen flackernden Kerzen erleuchtet war. An den Wänden lehnten knutschende Pärchen. Martin flüsterte zweimal »Anne«, erntete aber nur verschämtes Kichern von verschiedenen Seiten. Er hätte vorher wissen können,

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