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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Ärger. Nur die neuen Verkehrspolizisten gefielen ihr. Bis auf die schwarzen Hosen waren sie vom Rock über die Mütze bis zu den Handschuhen ganz weiß angezogen. Sie hatte schon ein paar Mal vorgegeben, blind zu sein, um sich von einem von ihnen über die Straße führen zu lassen. Die Stelle, an der der Handschuh sie am Arm berührt hatte, brannte hinterher wie Feuer.
    »Hast du das Buch noch?«, fragte sie ihren Bruder, als die Brücke über den Nymphenburger Kanal im letzten Abendlicht in Sicht kam. »Wenn du das verlierst, werfe ich dich in den Tümpel zu der Prinzessin.«
    »Immer nur dein Buch.« Ewald versuchte, mit ein paar großen Schritten zu ihr aufzuschließen.
    An der Straße entlang dem Kanal war vom verlorenen Krieg wenig zu spüren. Friedlich lagen die meisten Häuser in ihre riesigen Gärten eingebettet. Katharina ging wieder voran. Vor einem Holzzaun blieb sie stehen. Der Garten war verwildert, das Haus musste schon mehrere Monate lang leer stehen. Sie trat gegen zwei morsche Planken.
    »Hier wohnen wir ab sofort.«
    Ewald nickte schläfrig und presste das Buch an sich. Nur keine falsche Frage stellen, sonst ließe sie ihn nie schlafen …
    In der Wiese raschelten Insekten, das Gras stand ihnen bis zu den Knien. Abweisend lag die riesige Villa mit verschlossenen Fensterläden vor ihnen. Sie schlichen bis zu einem kleinen Holzschuppen voller Gartengeräte. Sie schafften alleshinaus, bis sie genug Platz zum Schlafen hatten. In einer Kiste fanden sich sogar ein paar Decken. Katharina zog sich eine über den Kopf. Es war eine glänzende Idee gewesen, nach Westen zu gehen.

9
    Die Nacht war verdammt lang, aber letztlich war es egal, wo Andras wach lag. Ob in seiner Höhle unter Trümmerbergen oder auf dem blanken Erdboden in einem Sammellager in der Corneliusstraße, zusammen mit Schwarzhändlern, Taschendieben und anderen Unglücksraben, die zwar so dumm waren, sich von der Schutzpolizei schnappen zu lassen, aber allesamt klug genug, keinen Registrierschein mit sich zu führen.
    Andras blickte auf sein Bein, das neben seiner Schulter lag. Der Sprung in der Prothese zog sich in dem weißen Porzellan inzwischen fast fünfzehn Zentimeter lang vom Spann nach oben und breitete sich in einem feinen Geäst auf dem Schienbein aus. Nur die Rose war noch unbeschädigt. Noch einen Sturz würde das falsche Bein nicht überstehen.
    Nachdem sie dem Amerikaner mit der Uniformjacke und der Kordhose auf dem Sendlinger-Tor-Platz seine Erkennungsmarke gestohlen und der alten Frau die Gans abgehandelt hatten, waren sie zur Straßenbahn gerannt. Seine Wehrmachtfreunde erwischten sie gerade noch. Aber bevor Georg ihn in den Wagen ziehen konnte, war Andras vom Trittbrett abgerutscht und vor die Füße eines Schutzpolizisten auf die Sonnenstraße gefallen. Der freute sich über seinen Fang und ließ ihn sofort in das Sammellager abtransportieren.
    Andras seufzte. Sein ganzes Leben war nichts als eine unglückliche Häufung von Stürzen. Angefangen mit dem ersten vor fünfzehn Jahren, der ihn als Erstklässler sein linkes Bein gekostet hatte. Der vorletzte Sturz vor dem heutigen, an einem der letzten Apriltage, hatte ihm paradoxerweise das Leben gerettet.
    Vier Tage zuvor waren sie von Allach, einem Vorort im Nordwesten Münchens, aufgebrochen. Mehrere Tausend Häftlinge aus Dachau und den Außenlagern. Andras war kein normaler Häftling, er ging einer ehrbaren Arbeit nach. Mit den Verbrechern aus dem Stammlager wollte er nichts gemein haben. Doch am Ende wurde kein Unterschied mehr gemacht zwischen ihnen. Für alle hieß es an jenem Morgen im Hof zum Appell anzutreten. Zum wievielten Mal eigentlich? Als ob sie sich in der Nacht hätten vermehren können. Wenn einer starb, war es den Kapos doch nur recht. In Sechserreihen zogen sie kurz darauf los. Die Angst nagte an ihnen. Die wildesten Gerüchte kursierten. Man würde sie zu einer geheimen Waffenfabrik schaffen. Oder sie auf einen Gletscher treiben, um sie dort zu massakrieren, bis sich die Isar rot vor Blut färben würde. Keiner wusste es. Nur eines wussten sie: Wer nicht Schritt hielt, wurde getötet.
    Am vierten Tag des Marsches war Andras am Ende seiner Kräfte. Dann ging alles rasend schnell, wie in einem alten Stummfilm. Auf einmal marschierte dieser Mann neben ihm, munter und kräftig, als befände er sich auf einem Spaziergang. Sein Schlendern erregte Aufsehen: leicht und federnd. Nach einigen Schritten nickte er ihm zu, Andras grüßte apathisch zurück.

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