Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
Vom Netzwerk:
Plötzlich schubste der Unbekannte ihn kräftig am Oberarm, Andras verlor das Gleichgewicht und fiel, sich einmal überschlagend, die Böschung hinunter. Niemand vom Wachpersonal bemerkte sein Verschwinden – oder wollte es bemerken. Von Brombeerranken geborgen drangen das Murrender Häftlinge, die schlurfenden Schritte und die heiser gebrüllten Befehle zu ihm. Nach unendlich langen Minuten breitete sich eine Ruhe aus, wie Andras sie noch nie erlebt hatte. Der Gespensterzug war vorübergezogen. Ohne ihn. Er war gerettet.
    Gerettet. Der stechende Schmerz im Knie kehrte wieder. Andras robbte näher zu dem Lichtstreifen, der von der Corneliusstraße durch das Barackendach fiel, und starrte auf die Erkennungsmarke, die sie dem Amerikaner mit der zu weiten Uniformjacke gestohlen hatten. Irgendetwas war faul an der Sache, nicht nur die zerschlissene Kordhose passte nicht zu seinem Auftreten als Offizier. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die eingravierten Buchstaben und Nummern der Erkennungsmarke, die für ihn keinen Sinn ergaben. War der Fremde vielleicht doch nicht sein Lebensretter beim Todesmarsch über die Alpen? Wie er es auch wendete, ganz sicher war er sich nicht.
    Vom Aussehen erinnerte er ihn vielmehr an einen Südländer. An einen Italiener, Griechen oder einen aus Jugoslawien, wie er sie dutzendweise in Allach kennen gelernt hatte. Der Mann konnte alles sein. Nur Amerikaner hatte es in Dachau nicht gegeben.
    Andras unterdrückte ein Stöhnen und drehte sich auf die andere Seite. Neben ihm schnarchten drei Männer, als hätten sie seit Wochen kein Auge zugetan. Dabei kannte er sie nur schlafend: im Englischen Garten lagen sie unter einer riesigen Kastanie, in einem Rudel wie Wölfe. Hätte er an der Straßenbahn besser aufgepasst, müsste er nicht die Nacht neben ihnen verbringen. Er verstand nicht, was verwerflich daran war, auf dem Trittbrett mitzufahren, wenn in den überfüllten Wagen kein Platz mehr war. Das würde er den Schnellrichtern morgen früh ins Gesicht sagen.
    Er schnallte sich seine Prothese wieder an den Kniestumpfund richtete sich mühsam auf, um sich an eine kühle Mauer zu lehnen. Auf der Corneliusstraße schrien die Schutzpolizisten schon wieder herum. Die Nacht neigte sich dem Ende zu. Warum hatte der Mann ihn nur gerettet? Er müsste ihn fragen. Wenn der »Amerikaner« seine Marke wiederhaben wollte, würde er ihn am nächsten Tag am Sendlinger Tor treffen. Dessen war sich Andras sicher. Dann würde er ihn zur Rede stellen. Sein Kopf sank auf die Brust und er schlief für eine gute Stunde ein.

10
    Wieder weckte ihn Vogelgezwitscher. Wie am Vortag zog sich Martin im Halbschlaf die Decke über den Kopf. Doch es nützte nichts, das Gepfeife ließ sich nicht länger ignorieren. Anne. Es passte zu ihr, ihn mit Pfiffen zu wecken.
    Er schlug die Augen auf. Im Raum war es taghell. An der Wand gegenüber, vollgehängt mit Ölgemälden, die Bauernhäuser und weidendes Vieh zeigten, thronte eine riesige Kommode, auf der etliche Fotos in geschnitzten Holzrahmen standen. Darauf Paare, Hochzeiten, eine Maibaumaufstellung, verschämt grinsende Gesichter.
    Und der Vogel? Er blickte nach oben. Eine aufgeregt zwitschernde Amsel saß direkt über ihm in der dicht belaubten Krone einer Kastanie. Für einige Sekunden setzten Martins Gedanken aus. Er brachte die Bilder nicht zusammen, sah noch einmal zu der Kommode mit den Familienaufnahmen und in die Blätter über sich. Aber er täuschte sich nicht. Vorsichtig drehte er sich auf den Bauch. Unmittelbar hinter den Bettpfosten brach das Zimmer ab. Mit einer ruckartigen Bewegung wäre er unweigerlich in die Tiefe gestürzt, drei Stockwerkehinunter in einen mit Trümmern übersäten Hinterhof. Martin schloss die Augen wieder. Deutschland war ein gefährliches Land geworden, mit gefährlichen Frauen. Nun verstand er, warum Anne ihn bei sich hatte aufnehmen wollen. Es war der zweite Versuch, ihn zu töten.
    Im selben Moment hörte er den Schlüssel im Schloss. Die Tür wurde aufgestoßen. Im Türrahmen stand seine Henkerin. Wieder trug sie einen schwarzen Rock und eine hochgeschlossene dunkelblaue Bluse. Ihre rotblonden Haare waren feucht und klebten am Kopf. Sie wirkte nervös.
    »Oh … du bist noch da. Ich hoffe, du hast zumindest schlecht geschlafen. Ich habe die ganze Nacht gebetet.«
    »Ich weiß schon wofür.« Er deutete hinter sich. »Doch auf meinen Abgang musst du noch ein wenig warten.«
    »Das Lachen wird dir bald vergehen. Jetzt reden wir«,

Weitere Kostenlose Bücher