Der erste Sommer
eine piepsende Frauenstimme, während sie mit den Füßen die Scherben zusammenschob und dabei den Eintopf zu Brei trat.
»Raus!«, befahl der Mann im Bett.
Die Frau schluchzte.
»Du bist entlassen.«
Das Schluchzen wurde noch lauter. Sie tastete sich zur Tür und verschwand.
Andras wagte kaum zu atmen. »Wer war das?«, fragte er schließlich mit gesenkter Stimme in das Dunkel.
»Meine Sekretärin. Genauso unfähig, eine Flasche Schnaps ohne Lärm ins Krankenhaus zu schmuggeln wie das deutsche Volk, einen Krieg zu gewinnen.« Die plötzliche Beredsamkeit seines Bettnachbars wirkte genauso bedrückend wie das lange Schweigen zuvor. »Sie sind noch jung, mein Freund. Ein Blick genügt, Kriegskrüppel und Eisenmangel. Sie müssen Eisen zu sich nehmen, um die Zeugungskraft zu erhalten. Viel Eisen. Und hüten Sie sich vor den Frauen. Hyänen allesamt. Blutsüchtig. Eine gemeine Stechmücke, das ist die moderne Frau! Einen Augenblick unbeobachtet, und sie saugt dich leer, sticht zu. Ich weiß, wovon ich rede. Mich wollte unlängst eine ermorden.«
»Sind Sie deshalb hier?«, fragte Andras beeindruckt.
»Ich habe mich vorsichtshalber ins Krankenhaus gelegt. Als Patient ist man weniger angreifbar. Die Luft um uns herum wird immer dünner.« Er drehte den Verschluss der Flasche auf und trank, dann setzte er von neuem an: »Wissen Sie, wie man sich fühlt, wenn man nach einem unverschuldet verlorenen Krieg nach Hause kommt, das Haus in Trümmern, die Praxis in Trümmern, die Professur in Trümmern? Das ganze Lebenswerk zerstört. Die Frau, die Kinder, alles unter Trümmern? Hätte man nicht die Kunst, man verzweifelte. Und eben da erwischt es einen.« Er rülpste. »Und Sie, was hat man an Ihnen verbrochen?«
»Ich habe in Allach gearbeitet.«
Der Mann im Nebenbett hob den Kopf und sah zu ihm herüber. Andras meinte, der Blick durchbohrte ihn.
»Ach, so einer sind Sie! Von der Porzellanmanufaktur …«
»Nein«, bemühte sich Andras um eine Rechtfertigung. »Ich war freiwillig dort. Wir haben Porzellanfiguren gemacht, sehr schöne.«
»Mir durchaus bekannt, die Allacher Manufaktur ist ein Begriff. Habe eine ganze Vitrine voll von dem Zeug. Höchste Kunstanstrengung. Geschenke von glücklichen Patienten, der Arzt als Schamane, dem man Opfer darbringt. Ein uralter Ritus.«
»Meine Lieblingsfigur war der Speerwerfer. Aus einem Guss.«
»Den besaß ich auch. Meine Frau hat ihn fallen lassen, mit höchster Wahrscheinlichkeit mutwillig. Speer abgebrochen, Athlet unversehrt. So muss es sein, wenn man aus dem Krieg heimkehrt. Mit gebrochenem Speer, aber voller Kraft in den Lenden.«
»War das gerade Ihre Frau, die Sie besucht hat?«
»Passen Sie auf Ihr Gedächtnis auf. Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass diese personifizierte Unfähigkeit meine Sekretärin war. Meine Frau gibt es nicht mehr.«
»O Entschuldigung«, stammelte Andras.
Sein Gegenüber räusperte sich.
»Kannst du noch oder hat man dir das Ding zwischen den Beinen auch weggeschossen?« Andras erstarrte. Sein Nachbar fuhr fort: »Die männliche Zeugungskraft ist der weiblichen Empfängnisbereitschaft deutlich überlegen. Aber wenn sie einmal zerstört ist, dann gute Nacht.«
Der Professor verstummte. Eine Weile blieb es still in dem Zimmer. Schließlich fasste Andras sich ein Herz.
»Martin schickt mich, er war in Dachau interniert.«
»Schön für ihn.«
»Ist das nicht Ihr Sohn?«
»Mein Sohn heißt Ewald, und ist ein Wurm von fünf Jahren«, antwortete sein Bettnachbar. »Er ist noch nicht im Alter, sich in Dachau herumzutreiben. Alle Unschuld vergeht, der Teufel alleine besteht. Ewald. Was für ein stumpfsinniger Name! E – WALD. Das Werk einer stumpfsinnigen Frau. EinKind des Krieges. Kam am Schicksalstag des Zusammenpralls mit Polen auf die Welt gefahren. Der Lärm der Waffen ruft den Mann aus der mütterlichen Höhle in den Kampf, aber schwächlich, ein lebensunfähiges Kind. Trotz aller väterlichen Liebe.«
»Aber Ihr Sohn heißt doch Martin?«, insistierte Andras.
Einschüchternd erhob der Fleischberg seine Faust und brüllte drohend: »Mein Sohn heißt Ewald und ist ein Kind, merken Sie sich das endlich, Sie Gedächtniskrüppel. Ein fünfjähriges Nichts, und kriminelle Objekte wie Sie kennt er nicht.«
»Ich dachte –«, versuchte Andras zaghaft, zu Wort zu kommen.
»Katharina«, setzte sein Bettnachbar unheimlich leise an, »haben Sie sich an sie herangemacht? Wehe Ihnen! Wenn Sie das Mädchen nur mit Ihrem glasigen
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