Der erste Sommer
getan. Während Sie um Ihr Heil sangen.« Er räuspert sich theatralisch. »Was für ein dummes Klischee, als wären wir lauter Bestien auf diesem Gebiet. Helfen müssen wir. Das ist unser Fluch. Der Weg zum Heil der Vielen ist gepflastert mit dem Leid der Wenigen.«
Toscas Gesicht verzieht sich vor Ekel, aber sofort hat sie sich wieder unter Kontrolle. Sie braucht das Morphium, dafür erträgt sie auch seine selbstgefälligen Monologe. Das Auto wird an einer Straßensperre angehalten. Der Fahrer zeigt den Soldaten ein Papier. Darauf können sie sofort weiterfahren.
»Als Arzt ist man unabkömmlich, egal, welche Rasse regiert«, erklärt er die Unterbrechung. »Und wenn einen das Volk zum Spezialisten gekrönt hat, ist man frei wie ein Narrim Zirkus. Ich habe die Verpflichtung zur Lehre immer als Belastung empfunden. Irgendwann habe ich mich zurückgezogen, um einem neuen Geschlecht den Weg zu ebnen. Niemand hat mich dabei bestärkt. Die Frau im fernen München, mit den Kindern, allein, dem Sturm ausgesetzt, den Verlockungen des Mannes. Sie hätte sich erhängen sollen. Das Erhängen ist immer noch die schmerzloseste Art, aus der Welt zu treten. Was haben Sie da am Hals?«
Er beugt sich zu ihr und greift nach dem Medaillon in ihrem Ausschnitt. Sie packt seine Hand und legt sie auf ihr Knie.
»Sie können alles anfassen, aber nicht das.«
Ihr wird bewusst, wie betrunken er sein muss. Warum hat sie sich auf diese irrsinnige Fahrt eingelassen?
»Was ist das?« Er fasst ihr wieder an den Hals.
»Die Heilige Jungfrau.«
»An Jungfrauen glaube ich nicht. Nicht mit meinem Erfahrungsschatz.« Er lacht und beugt sich nach vorne zu dem Fahrer: »Kennst du eine Jungfrau?«
»Was ist der Preis?«, fragt Tosca. Er reagiert nicht, lässt aber den Anhänger los. »Der Preis dafür, dass ich mir diesen Schwachsinn anhöre.«
Er überlegt einen Augenblick, dann lacht er.
»Frauen sind wie Kinder und Männer wie Stiere.« Scharf sieht er sie an. »Morphium. So viel und so lange du willst, bis zu deinem Lebensende. Deshalb bist du doch mitgekommen. Seit wann bist du davon abhängig?«
»Ein paar Jahre schon.« Tosca will mit ihm nicht darüber sprechen. Genauso wenig wie über die Operation, die man an ihr vorgenommen hat.
»Ich werde dich mit Engelsflügeln durch Morpheus’ Reich geleiten. Du musst nur singen für mich, ein Mal nur für mich.«
»Was haben Sie die letzten Jahre gemacht?«, fragt Tosca, um von sich abzulenken.
»Ich habe mich mit einer sanften Methode der Sterilisation befasst.«
»Gut, ich werde für Sie singen. Wie ich noch nie gesungen habe.«
Wieder ist die Glut in ihren Augen, die ihn so reizt. Tosca hasst ihn mit jeder Faser ihres Körpers, er spürt das unbewusst und begehrt sie deshalb umso mehr.
»Was werden Sie mir darbieten?«
»Warten Sie ab.«
Den Rest der Fahrt schweigen sie, bis der Wagen auf der Höhe des Nationaltheaters in der Maximilianstraße hält. Sie steigen aus. Der Fahrer holt aus dem Kofferraum einen Klappstuhl und seinen Klarinettenkoffer für den zweiten Akt.
31
Katharina wickelte die grüne Stola fester um sich. Ewald lag im Bett unter zwei Decken vergraben und schlief unruhig. Er war noch klein, er brauchte seinen Schlaf. Manchmal fiel es ihr schwer, ihn alleine zu erziehen. Nie konnte er stillhalten. Ihre Mutter hatte fast alles versäumt oder wenigstens falsch gemacht. Um den Kopf trug er noch den dicken Verband. Sie hatte an ihm geübt. Beim nächsten Krieg würde sie ein Lazarett eröffnen. Mit echten Patienten. Das war das Einzige, was sie von ihrem Vater, dem berühmten Arzt, angenommen hatte: das Mitleid mit den Kranken.
Sie trat auf den Balkon hinaus und blickte in den nächtlichen Garten. In dem hohen Gras wuchsen duftende Blumen, deren Namen sie nicht kannte. Sophie würde sie bestimmt benennen können, immer tat sie so, als würde sie alles wissen.Dabei wusste sie gar nichts. Katharina stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung und barg ihren Kopf in den Händen. Der milde Wind roch wunderbar nach Regen.
Bald würde die neue Regierung Katharina und ihrem Bruder das Grundstück übertragen. Bestimmt. Im Wohnzimmer würde sie eine Praxis gründen, um im nächsten Krieg sofort das Lazarett im Garten einrichten zu können. Es konnte nicht mehr lange dauern. Wenn man lange genug in einem fremden Haus wohnte, gehörte es einem. Neuer Lebensraum durch Enteignung, sie müsste nur noch den Vertrag unterschreiben. Was für eine segensreiche Einrichtung, so
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