Der erste Sommer
Engländer. Im 18. Jahrhundert scheint dort alles Porzellan zerschmissen worden zu sein. Man kann ihnen alles verscheppern, wenn man behauptet, es wäre alt. Also meinen Segen hast du, aber komm bald wieder. Wir brauchen deine Porzellankünste.«
Andras runzelte die Stirn. Er fühlte sich nie ernst genommen. Niemand nahm einen Krüppel ernst. Er wollte ihnen zeigen, dass er so etwas auch allein durchzöge. Grußlos stand er auf und machte sich ohne Umwege auf den Weg zum Krankenhaus, um Martins Vater zu finden.
»Wieso wollten Sie unbedingt zu uns?«, fragte der übermüdete Arzt und nahm sein Stethoskop ab. »Ihrem Bein fehlt nichts. Außer der unteren Hälfte, wenn Sie den Scherz erlauben. Eine Entzündung kann ich nicht erkennen. Und dass Ihnen der Stumpf von Zeit zu Zeit Schmerzen bereitet, ist normal. Schmerzen gehören zum Leben der Lebendigen.« Der Doktor tätschelte Andras’ Knie und ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen, und dann verschwinden Sie! Wollen Sie sich vor dem Arbeitsdienst drücken oder benötigen Sie Morphium?«
Andras schwieg.
»Haben Sie sich was eingefangen? Jetzt reden Sie endlich, Herrgott noch mal! Sie sprechen doch Deutsch.«
»Mir wird übel, helfen Sie mir!«, rief Andras in schlecht gespielter Verzweiflung. Sein Knie zuckte. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen zu dem Arzt, der einen Augenblick unschlüssig hinter dem Schreibtisch sitzen blieb, bevor er sich langsam erhob und wieder neben Andras trat. Er knöpfte missmutig den Hemdsärmel auf und schob den Stoff hoch, um ihm den Puls zu fühlen. Kopfschüttelnd sah er auf den Unterarm seines Patienten. Er zupfte das Hemd höher und schnalzte mit der Zunge: »Jetzt verstehe ich. Hätten Sie das doch gleich gesagt.« Der Arzt ließ den Arm mit der eintätowierten Nummer los.
»Ich bin kein Krimineller. Und erst recht kein Kommunist.« Andras schob den Hemdsärmel hastig wieder herunter.
»Es geht mich nichts an, warum Sie in Dachau waren.«
»Ich brauche ein Bett. Für eine Nacht ein Bett.« Er sah den Doktor flehentlich an. Bisher war sein Plan aufgegangen, nun musste er nur noch auf das richtige Zimmer gelegt werden. »Verstehen Sie das? Nach all den Jahren, eine Nacht in einem Bett! Gewähren Sie mir diese Bitte!«
Der Doktor nickte erleichtert. »Ach, es geht um eine Nachtim Bett. Deswegen brauchen Sie mir keine Oper vorzuspielen. Meinetwegen. Sie haben Glück. Morgen ziehen wir um. Die Patienten sind bereits verlegt worden. Wir haben für diese Nacht also genug leere Betten für Patienten wie Sie. Ich bin der letzte Mediziner hier.«
Andras starrte ihn enttäuscht an.
»Beim nächsten Mal denken Sie sich bitte ein stimmigeres Krankheitsbild aus, oder Sie sagen einfach die Wahrheit, wie jeder normale Patient.«
Er drückte auf eine Klingel. Wenige Sekunden später ging die Tür auf und eine mollige Krankenschwester steckte ihren Kopf hinein.
»Der junge Mann hier möchte gerne bei uns übernachten«, sagte der Arzt. »Geben Sie ihm ein paar Vitamine oder irgendetwas anderes, was nichts schadet, und legen Sie ihn zu meinem Kollegen. Gesellschaft tut dem Professor, glaube ich, ganz gut.«
Andras hätte dem Arzt um den Hals fallen können. Er hatte Martins Vater gefunden. Bestimmt war er es! Die Schwester lachte ordinär.
»Nötig hat er es wohl. Wie der mich immer anstarrt.«
Der Arzt tätschelte sie begütigend am Oberarm. In der Tür drehte er sich zu Andras um.
»Ich vergaß ganz, es Ihnen zu sagen. Alleine sind Sie heute Nacht doch nicht. Also reißen Sie sich zusammen und machen Sie uns keine Schande!«
Vorsichtig schnallte Andras sich sein Bein an, während die Krankenschwester neben ihm wartete. In dem breiten Treppenhaus fehlten alle Fensterscheiben. Ein lauer Wind erinnerte in dem kühlen Gebäude an den Spätsommer draußen. Die Krankenschwester fasste ihn unter den Arm und schob ihn resolut die Treppe hinauf: »Beeilung. Das ganze Haus ist akut einsturzgefährdet. Es kann jeden Moment über uns zusammenbrechen.Dann ist alles aus. Ausgerechnet in die Pathologie ist die Bombe gefallen, makaber, nicht wahr? Aber ab morgen ist der Nervenkitzel vorbei.«
Sie bogen in einen langen Gang. Die Krankenschwester klopfte an eine Tür und riss sie im selben Moment auch schon auf. »So, Herr Professor, für diese Nacht bekommen Sie Gesellschaft. Damit sie ein bisschen auf andere Gedanken kommen. Und keine Sorge, es ist ein Mann.«
Sie wies Andras auf zwei freie Betten in
Weitere Kostenlose Bücher