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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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wiederholte er es. »Die Epoche des Andras!« Einen Augenblick besann er sich: In Zukunft würde er sich nicht mehr Andras nennen, sondern Andreas.
    Fröhlich kletterte er aus dem Bett, griff seine beiden Krücken und verließ das Zimmer. Das einsturzgefährdete Krankenhaus war menschenleer. Auf dem Gang stand noch ein rostiger Infusionsständer, ansonsten war alles medizinische Gerät abtransportiert worden. Er hinkte die Treppen herunter und lief, so schnell ihn sein gesundes Bein trug, zum Eingang. Draußen blieb er unschlüssig stehen. Martin hatte ihm auf dem Weg zu den Trümmern von Klammbergs Wohnung gesagt, dass er ihn in jeder Mittagspause vor den umgestürzten Löwen auf dem Odeonsplatz finden würde. Er hatte also noch mindestens vier Stunden zu überbrücken.
    Er lief durch die Münchner Innenstadt, die ihm mit den Ruinen und den Pfaden inzwischen so vertraut vorkam wie sein Geburtsort in der Nähe von Budapest. Die vielen Baustellen freuten ihn, es ging schon wieder aufwärts. Man musste nur immer tapfer nach vorne sehen und nicht mehr zurück. Gemeinsam mit anderen Schaulustigen beobachtete er, wie eine riesige Eisenkugel, die an einem Bagger hing, nach vielen Versuchen eine hartnäckige Wand zum Einsturz brachte. Alle entfernten sich mit einem Siegerlächeln.
    Vor dem Nationaltheater auf dem blank gefegten Max-Joseph-Platz zählte er die Säulen, die in den Himmel ragten. Es waren acht. So viele Kinder wollte er haben! Die Stadt war voller versteckter Zeichen für ihn. Vor dem Monument räkelte sich ein Liebespaar auf einem Panzer. Ungeduldig wartete er eine Stunde auf den Stufen der Feldherrnhalle, bis Martin in einer amerikanischen Uniform angeschlendert kam.
    »Was hast du denn an? Bist du jetzt völlig zu den Amerikanern übergelaufen?«, begrüßte Andras ihn.
    »Man sollte immer auf Seite der Stärkeren stehen«, entgegnete Martin und bedeutete ihm mit einem Wink, ihm in den Hofgarten zu folgen. Obwohl die Sonne noch sommerlich warm vom blauen Himmel schien, vermittelten dietoten Baumstümpfe eine Ahnung vom heraufziehenden Herbst.
    »Wo kommst du eigentlich her?«, fragte Martin unvermittelt.
    »Aus Ungarn.«
    »Und warum gehst du nicht wieder zurück?«
    »Ich möchte mir hier etwas aufbauen. Etwas Eigenes. Aber das ist im Moment nicht wichtig.«
    Martin spürte, dass Andras kaum mehr an sich halten konnte.
    »Hast du etwas herausbekommen?«
    »Ich habe deinen Professor getroffen. Aber er verleugnet dich. Sein Sohn heißt Ewald. Oder ist dein wahrer Name Ewald?«
    »Ach«, spottete Martin. »Professor ist er inzwischen? Wie geht es ihm?«
    »Den Umständen entsprechend, das sagt man doch so, oder? Bist du etwa auch ein Arzt? Ihm ist etwas Wahnsinniges passiert. Eine Götterdämmerung.«
    Martin sah ihn verständnislos an.
    »Stell dir vor, seine eigene Frau, eine weltberühmte Sängerin, hat ihn im Rausch umbringen wollen. Wegen des Morphiums.«
    Martin packte ihn schmerzhaft am Arm. »Was erzählst du da?«
    Andras genoss das Gefühl der Macht, die ihm das Wissen verlieh. Er deutete auf die Trümmer der Residenz, hinter denen der Bühnengiebel des Nationaltheaters zu sehen war. »Da ist es passiert. Während einer Aufführung«, erklärte er.
    »Erzähl endlich!«, fuhr Martin ihn an. Er war bleich im Gesicht.
    »Als der Professor nach dem Krieg heim kam, lag alles in Trümmern, sein Haus, die Kinder, alles. Verschüttet und begraben!«Er riss die Augen theatralisch weit auf. »Du hast das Haus ja gesehen.«
    »Auch die Kinder? Und die Frau? Gerade hast du doch gesagt, die Frau wollte ihn umbringen! Wenn du nicht sofort alles erzählst, bringe ich dich um.«
    Andras erschrak. Er hatte nicht gedacht, dass Martin so heftig auf die Nachricht reagieren würde. Dabei war der Professor doch gar nicht Martins Vater. »Nur die Kinder hat es erwischt, ein Mädchen und zwei Söhne, glaube ich, oder einen. Er redete immer nur von einem Ewald.«
    »Weiter!«, befahl Martin.
    »Es ist die Wahrheit, so wie er sie mir erzählt hat. Und dann ist sie gesprungen, seine Frau, die Sängerin. Davor hat sie versucht, ihn umzubringen«, fuhr Andras fort, vollkommen hilflos, wie er Martin trösten könnte. »Eine weltberühmte Sängerin.«
    »Sie hat also doch damit angefangen«, sagte Martin zu sich selbst.
    »Mit was?«, fragte Andras begriffsstutzig.
    »Mit dem Singen.«
    Mitleidig sah er Martin an. »Nichts für ungut. Aber ein bisschen verrückt muss sie schon gewesen sein, dass sie sich mit dem Professor

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