Der erste Sommer
eingelassen hat. Tosca hat sie sich genannt. Schöner Name eigentlich. Das ist eine Oper. Die wurde auch in Budapest gespielt.«
»Verrückt war sie«, brummte Martin.
»Dass jemand so eine Rolle spielt, dass er die Wirklichkeit nicht mehr erkennt. Das könnte mir nicht passieren.«
»Deswegen bleibst du ein Krüppel, der auf dem Schwarzmarkt gefälschtes Porzellan verkauft.«
Andras duckte sich wie nach einer Ohrfeige. Was hatte er Martin nur getan? Anscheinend bedeutete ihm der Professor unglaublich viel. War er am Ende doch Martins Vater?
»Er ist nicht ganz allein. Er hat eine Sekretärin, die tut alles für ihn.«
»Wie wollte seine Frau ihn umbringen?«, fragte Martin.
»Mit einer Spritze. Aber danach ist sie selbst umgekommen bei der Aufführung.«
»Das sieht ihr ähnlich. Weggelaufen, um mich nicht mehr sehen zu müssen.« Martin schwieg lange, dann sagte er unvermittelt: »Ich habe hier nichts mehr verloren, ich muss wieder heim.« Er wandte sich um, Andras folgte ihm.
»Wohin?«
»Nach New York.«
Andras versuchte, mit ihm Schritt zu halten.
»Du kannst jetzt nicht einfach gehen. Du bist mir noch etwas schuldig. Ich dachte, du bist Arzt! Du warst deswegen in Dachau, oder? Hast du dort Versuche gemacht?« Andras’ Stimme klang flehentlich.
»Ach ja, du wolltest noch eine Geschichte hören von mir. Die bin ich dir schuldig, nach dem, was du in meinem Namen herausgefunden hast. Bist du bereit? Die Geschichte ist einfach zu verstehen. Ich war Arzt in Berlin – und Kommunist. Schon bevor alles losging. Als es losging, landete ich mit ein paar Umwegen in Dachau. Ob wir uns dort kennen gelernt haben, ist mir entfallen. Die schönsten Geschichten sind immer die kürzesten, nicht wahr?«
Martin blieb stehen. Andras lehnte die Krücken an einen Baumstumpf und legte Martin freundschaftlich den Arm um die Schulter.
»Ja«, sagte er gedehnt, »nun sind wir quitt. Herr Doktor. Wir könnten Freunde werden. Ich habe zwar nicht studiert, aber ich habe in Allach Prothesen entwickelt, wie meine eigene.«
»Lass gut sein.« Martin schüttelte seinen Arm ab.
Sie standen unter den Kolonnaden, die Hofgarten undOdeonsplatz voneinander trennten. Martin deutete auf eine Frau in braunen Hosen und mit einem Rucksack, die auf dem Platz stand und sich suchend umsah.
»Die Frau, die da auf mich wartet, die könntest du ein bisschen beobachten. Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Aber pass auf, sie ist gefährlich, wie eine Katze. Sie heißt Anne.«
Er wandte sich zu den Ruinen des zerbombten Armeemuseums und ließ Andras zum dritten Mal einfach stehen.
33
Seine Angel trug Ewald über der Schulter. Es sei die letzte Möglichkeit in diesem Sommer, einen Frosch zu fangen, hatte Katharina am Morgen zu ihm gesagt. Aber sie log meistens, und ihren Ermahnungen folgte er schon lange nicht mehr. Sobald er ihr »Gefängnis« verlassen hatte, war er ein freier Mann. Er verstand nicht, was sie gegen das Haus hatte, schließlich hatten sie sogar einen Garten. So gut wie in den letzten Monaten war es ihnen, seit er denken konnte, noch nie gegangen.
Losgezogen war er schließlich nur, weil Sophie ihm versprochen hatte, aus einem Frosch eine Suppe zu kochen, wie bei den Franzosen. Die tote Ratte, die er ihr neulich mitgebracht hatte, hatte ihr nicht gefallen. »Nur Russen fressen Ratten«, hatte sie behauptet. Ewald hatte es probiert, brachte es aber nicht über sich, in die Ratte zu beißen. Wenn er erst einmal einer wäre, würde er ihr zeigen, dass Russen alles essen, was auf den Tisch kommt. Er würde heiraten und an einem Fluss wohnen, an einem echten Fluss, so breit, dass man nicht das andere Ufer sehen konnte wie bei der langweiligen Isar. Er hangelte sich die Böschung hinunter undkauerte sich auf einen Stein. Mit Schwung warf er seinen Köder aus. Der Zigarettenstummel wurde von der Strömung sofort mitgerissen und trieb, sich langsam auflösend, davon. Einem erwachsenen Russen würde so etwas nicht passieren.
Angeln war langweilig, wenn man nie etwas fing. Ewald vertrieb sich die Zeit damit, die ihm bekannten Langweiler zu zählen. Ferdinand war keiner, der hatte immer etwas zu tun. Sophie sowieso nicht. Seine Mutter war eine halbe Langweilerin, zumindest wenn sie heulte. Und Katharina war eine ganze. Und wenn er es recht bedachte, war Ferdinand doch auch ein bisschen langweilig, weil er auf seine Fragen nicht antwortete und am Abend einfach einschlief, statt ihn zu einem Panther auszubilden. Ewald warf die Angelschnur
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