Der erste Sommer
davon.
Andras ließ sich auf die Knie sinken und drückte die Prothese an sich wie eine nach Jahren der Trennung wiedergefundene Geliebte.
34
Martin wollte sich gerade die Schuhe ausziehen, als Anne ihm im Flur entgegenkam. Auf ihrer weißen Schürze waren Blutflecken. Sie fuchtelte mit einem Brotmesser herum und zerrte ihn mit der freien Hand ins Bad.
»Wir müssen sie sofort töten!«, rief sie mehrmals. »Niemand darf etwas mitbekommen, sonst werden wir verhaftet.«
Der schmale Luftschacht, der aus dem Badezimmer ins Freie führte, war mit Lumpen zugestopft. Es war stickig. Auf der Konsole über dem Waschbecken flackerten Kerzen. Anne drückte ihm das Messer in die Hand und deutete auf die Badewanne. In dieser lag ein Ferkel.
»Wie kommt die Sau hierher?«, fragte Martin entgeistert, sah dann aber selbst den Sack, der in der Ecke lag. »Verstehe, statt der Fahrradschläuche. War Paula auch da?«
Er wollte das Badezimmer wieder verlassen, doch Anne verstellte ihm den Weg.
»Ich möchte sehen, ob du es fertigbringst.«
»Anne, ich will nicht. Ich bin kein Schlachter.«
Unbeeindruckt zog sie ihn vor die Badewanne.
»Hier«, sie deutete auf den Hals des Tieres, »hier musst du reinstechen. Los, mach schon!«
Sie kniete sich vor die Badewanne. Martin wollte sie wieder hochziehen, doch sie klammerte sich mit einer Hand an seinem Knöchel fest, während sie mit der anderen den Rücken des Ferkels streichelte.
»Stich zu!« Sie schloss die Augen.
Martin hielt die Messerspitze an Annes Hals. »Soll ich?«
»Ich liebe dich, verdammt noch mal!«
Anne riss die Augen auf, worauf Martin das Messer schnell wegzog. Es war heraus. Endlich. Sie umfasste sein Handgelenk,entwand ihm den Griff und stach es mit aller Wucht in den Rücken des Tiers. Martin stürzte zum Wachbecken.
»Das Ferkel kam schon tot hier an«, sagte Anne in seinem Rücken, »das Schlachten war nur ein Spiel. Wie alles.«
Er klammerte sich mit beiden Händen an dem Waschbecken fest. »Ach ja, wie konnte ich es vergessen? Das Schlachten, davon kommst du nicht los! Du wartest, seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben, auf meine Geschichte. Es ging dir immer nur darum«, sagte er und sah in den Spiegel.
Anne schluckte eine weitere Anklage hinunter. Warum hatte sie ihm nur gesagt, dass sie sich in ihn verliebt hatte? Er tat gerade so, als hätte er es nicht einmal gehört.
»Ich war gern bei den Werwölfen. Einem Jungen aus der Gosse haben die eine Perspektive gegeben. Von Anfang an war ich mit dabei. Aktiv ins Kriegsgeschehen haben wir erst dieses Jahr eingegriffen. Die Devise lautete: keine Gefangenen. Das Töten macht einem nur am Anfang etwas aus. Dann gewöhnt man sich daran, und irgendwann ist es sogar ganz reizvoll, wie ein Spiel. Ich habe bis zur letzten Sekunde daran geglaubt, dass wir Deutschen die überlegene Rasse sind. Die feigen Memmen in Penzberg wollten sich den Amerikanern in die Arme werfen, wie Huren. Wir Werwölfe wussten, dass wir verlieren würden, aber im Kampf und nicht wie feige Weiber. Reicht das?«
Anne nickte. Endlich hatte er ausgesprochen, was sie ihm in zahllosen Nächten in den Mund gelegt hatte. Ihr Geständnis hatte doch etwas bewegt in ihm. Die Geduld hatte sich ausgezahlt.
»Jetzt arbeite ich für die Amerikaner.«
»Daher hast du also immer das viele Geld.«
Er schwieg.
»Du machst den Eindruck, als hättest du noch nie über Geld nachdenken müssen.«
»Ich gebe es lieber aus.«
Anne beschloss, das Nachdenken auf später zu verschieben, rappelte sich hoch und wischte die Hände an der Schürze ab.
»Du warst also ein Werwolf. Und bist es noch. Dann habe ich dich jetzt in der Hand.«
Martin nickte. »Ja, das hast du. Kann ich jetzt gehen?«
»Nein, bleib bei mir, hier bist du sicher. Ich werde zu dir halten.«
Feierlich griff sie seine Hand. Martin nahm sie in den Arm.
»Anne, was ist denn?«
»Ich spüre, dass ich dich bald verliere.«
Er zuckte mit den Schultern. Sie hoffte, er würde ihr sagen, dass sie sich täuschte. Dass es eine Zukunft gebe, dass man aus den Trümmern etwas Neues errichten könne. Aber er schwieg, sah sie nur mit seinem geheimnisvollen Blick an.
»Der Herbst kommt, Martin.«
»Ach so, wegen des Herbstes. Natürlich.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte spöttisch.
Anne seufzte. »Es ist Erntezeit. Aber was gibt es bei uns schon zu ernten? Nur Tote.«
»Ach Anne. Es gibt nicht nur deine Toten.«
Sofort war sie hellwach. »Hast du eine andere
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