Der erste Sommer
mit dem Haken ins Wasser. Der Haken verfing sich in einem hohen Grasbüschel direkt vor ihm. Unwillig trat er mit dem Fuß dagegen. Angeln war auch etwas für Langweiler. Er zog den Stock zurück und riss die Schnur ab.
Durch das dichte Schilf in den Isarauen schlängelten sich schmale Trampelpfade, die sich unvermittelt hinter scharfen Biegungen verzweigten oder zu großen Liegeplätzen ausweiteten. Auf diesen sonnten sich an diesem, einem der letzten warmen Septembernachmittage, Badende. Ärgerlich sahen sie von ihren Büchern auf, wenn Ewald mit finsterer Miene auf das Schilf einschlagend an ihnen vorbeizog, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ein alter Mann verscheuchte ihn mit einer Handbewegung wie eine Fliege. Manchmal traf er dabei auf Paare, die erschreckt auseinander fuhren. Ewald gab die Hoffnung nicht auf, hier auch seine Eltern zu finden. Dass sein Vater in Russland war, glaubte er nicht mehr, genauso wenig, dass Mama ihn suchte. Bestimmt hatten Vater und Mutter keine Lust mehr auf Katharina und bliebendeshalb verschwunden. Er blinzelte in den Himmel, stieß gegen etwas Hartes und fiel hin.
Der Fuß, mit dem er gegen den Gegenstand getreten war, schmerzte. Sophie hatte ihm in die schwarzen Lederschuhe, die er Weihnachten vor zwei Jahren bekommen hatte, Löcher geschnitten. Nun ragte sein großer Zeh schon fast zwei Zentimeter heraus. Ewald rieb sich den Fuß und richtete sich auf. Einige Sekunden vergingen, bevor er begriff, was das für ein Ding war, über das er gestolpert war. Es war – ein Bein. Er schloss die Augen und zählte bis drei. Aber das Bein lag immer noch da. Es war so weiß wie das Teegeschirr, das nur am Sonntag benutzt werden durfte. Das Bein der toten Prinzessin! Er würde nie mehr Frösche angeln, er schwor es sich bei seinem Leben. Ängstlich sah er sich um. Niemand war zu sehen. Ewald tastete nach seinem Stecken und berührte das Bein damit. Im selben Augenblick kicherte eine Frau. Er erstarrte in der Hocke. Eine Libelle blieb surrend vor seinem Gesicht in der Luft stehen. Er kniff die Augen wieder fest zusammen und murmelte:
»Lieber Gott, bitte mach das Bein weg. Es tut mir leid«, er hielt einen Moment inne, »dass ich meine Schwester nicht lieb habe. Und dass sie sagt, unsere Mutter sei eine Hure. Sie meint das nicht so und ich auch nicht.«
Er blinzelte. Die Libelle war fort und er war allein. Noch nie hatte er in seinem Leben solche Angst gehabt. Nicht einmal, als sie mit ihrer Mutter vor dem zerstörten Haus gestanden hatten. Der Mann aus dem Luftschutzkeller, der ihre Mutter immer getröstet hatte, hatte gesagt: »Bei mir ist leider kein Platz für euch.« Mutter hatte nur geheult. Wie er jetzt, zum ersten Mal. Fast.
Wieder lachte die unheimliche Frau. Diesmal anders, höher und wilder, es war mehr ein Keuchen als ein Lachen. Er musste das Bein wieder ins Wasser werfen, damit der Geist derPrinzessin endlich Ruhe gab. Er hatte die Leiche bei der Polizei verpetzt, also musste er es auch wiedergutmachen. Er hielt den Atem an, griff nach dem Bein und zog es ganz langsam zu sich. Beschwichtigend redete er dabei darauf ein:
»Jetzt kommst du gleich wieder ins Wasser. Musst dir keine Sorgen machen, Prinzessin.«
Das Keuchen der Geisterstimme ging in ein wildes Stöhnen über. Darunter mischte sich das Brummen eines Mannes. Ewald versuchte, das eiskalte Bein unter seine Jacke zu schieben, aber es war zu groß. Er kroch Richtung Fluss und spähte um die nächste Biegung. Drei Meter vor ihm lag ein Mann in einer Sandmulde, mit der einen Hand fuhr er sich wie verrückt zwischen den Beinen auf und ab. Seine Hose hing ihm halb über den Hintern. An dem musste Ewald vorbei.
Andras spürte, dass er beobachtet wurde, und wandte den Kopf. Schamesröte schoss ihm ins Gesicht beim Anblick des kleinen Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass der Junge seine Prothese an sich gedrückt hielt. Keiner von beiden bewegte sich. Wenn der Kleine wegläuft, ist alles aus, dachte Andras. Er versuchte zu lächeln. Währenddessen wurde das Keuchen des Paares im Schilf immer lauter. Die Frau hielt überhaupt nicht mehr an sich. Mit einer ruhigen Bewegung griff Andras nach seinen Krücken und hievte sich daran hoch. Auch Ewald stand langsam auf, die Prothese immer noch an sich gepresst. Plötzlich schrie die Frau ungehemmt vor Lust auf. Da schleuderte Ewald das Bein mit aller Kraft gegen den Mann in Unterhosen. So schnell er konnte, rannte er
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