Der erste Sommer
und schob sie durch den Schlitz. Martin bedeutete ihr mit zwei Fingern, dass er eine weitere benötigte. Die Kassiererin sah unwillig auf. Aber Widerstand war zwecklos, sie würde doch den Kürzeren ziehen. Grimmig gab sie ihm auch die zweite Karte. Hinter ihm raunte eine Frau ihrem Begleiter zu:
»Das ist also die Demokratie.«
Martin drehte sich mit versteinerter Miene um.
»Ich werde Ihnen gleich zeigen, was die Demokratie ist«, blaffte er und machte drohend einen Schritt auf sie zu.
Die Umstehenden wichen unwillkürlich zurück; die Frau hatte doch nur laut gesagt, was jeder dachte. Sie umklammerte ihre unförmige Tasche voller Sparbücher. Dabei hatte ihr Mann sie ermahnt, nicht immer alles mit sich herumzuschleppen. Wenn ihr der Amerikaner nun die Tasche abnahm, blieb ihnen nichts mehr, um über den Winter zu kommen. Martin blieb vor der Frau stehen. Langsam zerriss er vor ihren Augen eine der Eintrittskarten und ließ die beiden Hälften fallen. In einer Aufwallung von Trotz wollte sie sich nach den Fetzen bücken. Doch er machte einen Schritt vor und trat darauf.
» That’s democracy «, sagte er und hielt ihr mit einer galanten Verbeugung die andere Karte hin.
Die Frau war überfordert. Ratlos drehte sie sich zu ihrem Mann um, aber der buchstabierte das Filmplakat. Zögerlich streckte sie die Hand aus und griff nach dem Billett. Keinerder Umstehenden verstand, was der Amerikaner damit bezweckte. Sollte das die Umerziehung sein, von der alle sprachen? Einige schüttelten ungläubig den Kopf.
Martin wandte sich nach ein paar Schritten noch einmal zu der Frau um und forderte die immer noch fassungslos auf die Karte in ihrer Hand Starrende auf:
»Simply enjoy!«
Er zwinkerte ihr zu. Ihr Mann erwachte aus seiner Erstarrung, aber sie hielt ihn am Ärmel zurück.
»Sie können mit uns tun, was sie wollen.«
Martin war unterdessen bei Anne angelangt.
»Lass uns gehen, ich habe keine Lust mehr auf Kino.«
»Das kommt gar nicht in Frage«, gab sie patzig zurück. »Man gibt in einer Schlange nicht auf, auch nicht, wenn man ganz hinten steht.« Sie hakte sich resolut bei ihm unter.
»Ich gehe«, sagte Martin und machte sich los, »du kannst ja bleiben.«
»Wenn du das tust, schreie ich, bis jeder hier weiß, dass du kein Amerikaner bist, sondern ein einfacher deutscher Verbrecher.« Wieder funkelte der Zorn in ihren Augen. Ein blasser, aber immer noch gut aussehender Verbrecher in Uniform. »Was ist, hast du Karten?«
»Demokratie heißt, sich hinten anzustellen«, antwortete Martin und stopfte das Schreiben der Militärregierung in seine Jackentasche.
»Ach, deswegen willst du gehen. Weil das Mädel an der Kasse nicht gleich auf dich hereingefallen ist?«, fragte Anne, mühsam eine Aufwallung von Eifersucht herunterschluckend.
»Dir wäre doch lieber, ich wäre Amerikaner, und wir hätten die Karten, oder? Dein eigener Vorteil geht vor.«
Martin nestelte an seinem Krawattenknoten herum. So schlecht gelaunt hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie presste seinen Arm noch fester an sich.
»Ich bin erleichtert, seit ich weiß, wer du wirklich bist.«
Er lockerte mit seiner freien Hand den Knoten der Krawatte und zog sie herunter. Die obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete er, als würde er sonst ersticken und rieb sich den Hals, bis sich die Haut rötete. Anne beobachtete ihn erstaunt. Irgendetwas stimmte nicht.
»Siehst du den Mann da vorne?«, versuchte sie ihn abzulenken, »der verfolgt mich. Der ist mir in den letzten Tagen öfter begegnet mit seinen Krücken. Das kann kein Zufall sein. Kennst du ihn? Er sieht immer wieder zu uns her.«
Martin hatte Andras bereits bemerkt, als er von der Kasse zurückgekommen war. Trotzdem schüttelte er verneinend den Kopf.
Mit Glück ergatterten sie noch zwei Karten. Die Kassiererin sah nun eher mitleidig auf den Ami, den Anne fest untergehakt hatte. Er litt sichtlich unter der weiblichen Vereinnahmung. Das hatte er nun von der Demokratie.
Der Kinosaal war notdürftig hergerichtet. In Ermangelung von Glühbirnen erleuchteten flackernde Gaslampen die zerschlissenen Sitze. Es herrschte dichtes Gedränge, die meisten Reihen waren schon besetzt. Zielstrebig zog Anne Martin in die erste Reihe und bugsierte ihn in die Mitte. Er setzte sich und zog den Kopf ein.
Der Filmvorführer trat in einem grauen Kittel vor das Publikum. Er wartete, bis sich das Publikum beruhigt hatte.
»Hochverehrte Lichtspielfreunde –« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Noch fehlt
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