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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Übelkeit. Das Zimmer drehte sich um sie. Mit Mühe ergriff sie das leere Glas auf der Konsole neben dem Bett. Ewald betrachtete sie besorgt.
    »Soll ich dir ein neues Buch besorgen? Ich weiß einen Keller, da gibt es ganz viele, noch viel dickere. Auch welche mit Bildern!« Seine Augen strahlten vor Eifer. »Ich hole dir eins, ja?« Er sprang auf. »Dann liest du mir aus dem neuen vor, ja?« Er stupste sie am Oberarm an. »Ich gehe gleich los, dann bin ich in einer Stunde zurück.«
    »Die Entscheidung ist gefallen.«
    Ewald zuckte zusammen. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Sie würgte.
    »Geh nur, kleiner Bruder. Du bist das Einzige, was ich noch habe auf der Welt.«
    Jetzt war sie komplett verrückt geworden. Nur wegen des Buches.

36
    Martin klingelte so lange mit der Fahrradglocke, bis Anne mit der kleinen Katze auf dem Arm an die Kante des abgebrochenen Schlafzimmers trat.
    »Hier ist die Stimme Amerikas!«, rief er zu ihr herauf.
    Seit dem »Schlachttag« war er nur noch sporadisch gekommen. Sie schliefen grimmig miteinander, dann verschwand er wieder. Über die Vergangenheit sprachen sie nicht mehr, über die Zukunft hatten sie noch nie gesprochen und die Gegenwart war nur schweigend zu ertragen. Heute trug er eine sorgfältig geplättete amerikanische Uniform. Sie stand ihm. Sein Hintern kam darin gut zur Geltung, fand Anne. Sie beugte sich weiter nach vorne.
    »Pass auf, dass du nicht abstürzt!«, warnte Martin von unten.
    »Ich bin schwindelfrei!«, rief sie so laut, dass der Hausmeister in seiner Baracke die Tür zuknallte. Dabei schimpfte er »Amiflittchen« und »Unser armes Deutschland« vor sich hin.
    »Lass uns ins Kino gehen. Ich habe dir ein Fahrrad organisiert!« Martin deutete auf ein schwarzes Damenrad, das er an die Kastanie gelehnt hatte.
    »Ich kann nicht, ich habe gerade Wasser zum Baden hoch geschleppt«, zierte sie sich.
    »Baden kannst du, wenn der Sommer vorbei ist.«
    Anne hatte das Schlafzimmer bereits verlassen. Natürlich würde sie mit ins Kino gehen. Was für eine dumme Frage!
    Fünf Minuten später strampelten sie neben den Straßenbahngleisen der Barer Straße zum Hauptbahnhof. Martin fuhr trotz der vielen Schlaglöcher freihändig.
    »Wenn ich gewusst hätte, dass es ein Kino –« Er vollendete den Satz nicht. Ein auf die Straße springendes Kind erforderte ein gefährliches Ausweichmanöver.
    »Martin, pass auf!«, entfuhr es Anne erschreckt.
    »Ja, pass doch auf«, plärrte das Kind ihnen frech hinterher.
    »Machst du dir etwa Sorgen um mich?«, fragte er, als er neben ihr fuhr. »Es ist nett von dir, an mein Überleben zu denken, nachdem du mich dreimal umbringen wolltest.«
    »Ach, Martin, fang doch bitte nicht davon an.« Anne ärgerte sich, ihm gezeigt zu haben, dass sie sich um ihn sorgte. Sollte er doch vom Rad fallen. Auf welchem hohen Ross saß er eigentlich, ihr dauernd etwas vorzuhalten?
    »Mir passiert schon nichts«, erklärte Martin großspurig, »ich falle immer auf meine Pfoten.«
     
    Die Merkur-Lichtspiele lagen in unmittelbarer Nähe der zerstörten Ausstellungshallen oberhalb der Theresienwiese. An der Regenrinne des Kinogebäudes war ein bemaltes Plakat befestigt, auf dem sich eine junge Frau ängstlich zu einem Mann mit Hut wandte, der sie am Arm hielt. Die Nase des Mannes war dem Plakatmaler verunglückt. IM SCHATTEN DES ZWEIFELS stand in blutroten Lettern darunter. Vor dem Eingang hatte sich eine lange Schlange gebildet, die sich in mehreren Windungen bis auf die gegenüberliegende Seite der Gollierstraße wand. Sie stiegen von ihren Fahrrädern.
    »Ob wir hier noch etwas bekommen?«
    Anne war enttäuscht. Etwas Abwechslung hätte ihr gut getan.
    »Keine Sorge, für einen Amerikaner ist eine Schlange kein Hindernis.«
    Entschlossen schritt Martin Richtung Kasse. Anne wollte protestieren, zögerte aber und ließ die erhobene Hand sinken. Sollte er doch machen. Er benahm sich, als hätte er getrunken. Diese Gereiztheit kannte sie von Leopold … Um sich nicht dem Zorn der Wartenden auszusetzen, stellte sie sich selbst hinten an.
    Martin drängte sich forsch vor den Schalter. Hinter der Glasscheibe saß eine fünfzigjährige Frau. Ihre rechte Hand bedeckte die Rolle mit den Eintrittskarten wie eine Raubtierpranke. Martin wedelte mit einem Schreiben der Militärregierung, mit dem er sich als Lizenzoffizier ausgab. In Sorge, dass jemand von der Verwaltung merken könnte, dass ihre Konzession abgelaufen war, riss sie eine Karte von der Rolle ab

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