Der erste Sommer
Frau?«
Zwischen seinen Brauen bildete sich eine Falte.
»Mit deiner Vergangenheit kann ich leben, aber wenn du dich mit einer anderen Frau triffst, halte ich es nicht aus. Nie weiß ich, wohin du gehst. Immer verschwindest du, wenn ich dich brauche. Du bist seit dem ersten Mal im Juli keine einzige Nacht bis zum Morgen bei mir geblieben.«
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich kontrolliert.« Er drehte sich abrupt um und verließ das Badezimmer. »Ich muss los. Zu meinen Werwölfen.«
35
Von dem Bein der Prinzessin hatte Ewald seiner Schwester nichts erzählt. Es war schon so anstrengend genug mit ihr. Was wollte sie nur mit dem Wasserglas? Schon seit Stunden saß sie davor und strich immer wieder über die Riffelung. Katharina hatte darauf bestanden, dass er das Wasser aus dem Teich holte, in dem sie die Leiche der Prinzessin gefunden hatten. Es wäre ihr letzter Versuch, Ferdinand zurückzugewinnen. Der Tag der Entscheidung zwischen ihr und Sophie. Sie murmelte beschwörend auf das Glas ein.
»So einen Papa wie Ferdinand hätte ich auch gern«, sagte Ewald, den ihr Verhalten unruhig machte.
Seine Schwester nickte schweigend. Plötzlich fasste sie das Glas mit beiden Händen, verkündete mit aufgerissenen Augen: »Es ist soweit!«, und trank es in einem Zug leer. Es musste scheußlich schmecken, dem Gestank nach zu urteilen. Katharina legte sich neben ihn und faltete die Hände auf der Brust.
»Jetzt wissen wir bald Bescheid«, raunte sie.
Sie lagen auf dem Bett wie früher Mama und Papa. Fehlte nur noch eine dicke Zigarre. Ewald tat so, als ob er eine in der Hand hätte, und zog daran. Er würde einmal eine richtige Frau haben, keine launische Hexe. So hatte Sophie seine Schwester genannt. Und Ewald hatte nicht widersprochen, sie nicht, wie früher, verteidigt. Mit Kennermiene blies er den imaginären Rauch aus. Er legte ein Bein auf den geschlossenen Grammophonkoffer. Seine Schwester reagierte nicht. Er legte das zweite Bein dazu und ließ die Zehenspitzen kreisen. In seinen Socken waren Löcher. Er hatte ihnen Namen gegeben. Loch Stalingrad, Loch Elalalala. Loch Montecasino. Schlief Katharina oder warum reagierte sie nicht? Er hob das linke Bein an und ließ es auf das Grammophon fallen. Dann das rechte. Dann wieder das linke.
»Ich schicke dich in ein Heim.«
Katharinas Stimme klang eiskalt. Ewald schluckte und zog schnell die Beine von dem schwarzen Kasten.
»Vielleicht lege ich ein gutes Wort für dich ein, wenn du mir wahrheitsgetreu berichtest, was Ferdinand den ganzen Tag macht. Warum kommt er nicht?«, fragte sie, wie schon fünfmal zuvor in der letzten halben Stunde.
»Ferdinand ist nicht da.«
»Wenn du mich anlügst, werde ich ihm sagen, dass du dir im Luftschutzkeller vor Angst in die Hose gemacht hast.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Wie ich ihn kenne, wird er kein Wort mehr mit dir sprechen.«
»Das tust du nicht!«
»Tu ich doch!«
Ewald überlegte einen Augenblick. Immer wollte sie ihn bestrafen. Es reichte. Er würde sich das nicht mehr bieten lassen. Also sagte er es:
»Ferdinand hat Sophie dein Buch geschenkt.«
Katharina blieb ganz ruhig. Hatte sie nicht zugehört?
»Ferdinand hat Sophie dein Buch geschenkt.«
Seine Schwester blieb stumm und hob das Glas wieder an die Lippen, um den letzten Rest auf die Zunge tropfen zu lassen. Eigentlich hatte Ewald sich darauf eingestellt, dass sie nach ihm treten oder ihn aus dem Bett schubsen würde. Das tat sie fast jeden Morgen: ihn mit den Füßen in die Kälte hinausschieben. Stattdessen richtete sie sich auf und fixierte das riesige Ölgemälde über dem Kopfende des Bettes. Mit satten Farben zeigte es einen einsamen Felsgipfel. Zwischen einer Explosion aus rot und gelb beleuchteten Wolken ging rosa die Sonne unter. Über dem Gipfel zog ein überdimensionaler Adler seine Kreise. Unsicher stand sie auf und balancierte auf der weichen Matratze. Den Kopf in den Nacken gelegt, spuckte sie auf das Bild.
»Das glaube ich nicht«, sagte sie nach einer Ewigkeit. Sie sank auf das Bett zurück.
»Es stimmt aber … Er hat keine Lust mehr, sich von dir herumkommandieren zu lassen.«
Katharina ging auf seine hilflose Erklärung nicht ein. »Wann hat er es ihr geschenkt?«
»Ist noch gar nicht lange her.« Fieberhaft rechnete Ewald die Tage an den Fingern zurück. »Letzten Freitag.«
»Und was macht sie damit?« Katharinas Stimme war unheimlich leise.
»Sie liest ihm daraus vor.«
Katharina überfiel eine unbekannte
Weitere Kostenlose Bücher