Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
Vom Netzwerk:
und tippte sich an die Stirn.
    Anne ging summend die Thalkirchner Straße Richtung Innenstadt. Das Arbeitsamt mitsamt der Stadt München und allen Männern darin konnte ihr gestohlen bleiben.

38
    Sophie stand breitbeinig in der Tür.
    »Wie sollen wir über den Winter kommen, wenn du nur im Bett liegst?«
    »Ich bin Ferdinands Gefangene«, antwortete Katharina voller Genugtuung. Sophie schnaubte verächtlich. Katharina schlug die Decke zurück. Sie war nur mit einer Spitzenunterhose bekleidet. Ein monströser Büstenhalter hing ihr über dem Bauchnabel. Ihr blasser Körper war mit roten Flecken überzogen. Sie richtete sich mühsam auf, stellte sich schwankend auf die Matratze und begann, mit nach vorne gestreckten Armen Kniebeugen zu machen. Dabei sang sie:
    »Ich bin ein deutsches Mädchen, und deutsch ist mein Gewand! Nichts will es davon wissen, was eitler Flittertand. Was soll mir Samt und Seide, was blitzende Geschmeide. Es glänzt an Rock und Mieder als Schmuck die Sauberkeit.« Sie keuchte und ließ sich kichernd fallen.
    »Katharina!«, rief Sophie verunsichert. »Deck dich sofort wieder zu und ruh dich aus. Ich habe es nicht so gemeint.«
    »Hol Ferdinand«, befahl Katharina, »nur er hat hier etwas zu bestimmen. Ferdinand ist der –«
    »Ferdinand hat überhaupt nichts zu sagen«, unterbrach Sophie sie.
    »Ferdinand ist ein Panther und Räuberhauptmann.«
    Sophie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Panther gibt es seit dem Sommer nicht mehr. Die sind aufgeflogen und verhaftet. Die meisten sind inzwischen wieder Streber, die brav in die Schule gehen. Nur wir sind übrig geblieben.«
    Katharina sah sie ungläubig an. Diese Göre mit ihrem ordinären Zopf log hundertprozentig. Sie schluckte, nahm sichzusammen und stellte beiläufig die entscheidende Frage: »Hat Ferdinand dir mein Buch geschenkt?«
    »Ach, dein dummes Buch. Hast du nichts anderes im Kopf? Weißt du, womit ich meinen Tag verbringe? Ich kümmere mich darum, dass wir genug zu essen haben. Und sei es verschimmeltes Brot. Und ich studiere, wie wir die angefrorenen Kartoffeln, die dein Bruder aufklaubt, weich bekommen ohne Ofen. Hast du dich jemals in deinem Prinzessinnenleben gefragt, ob man den ranzigen Speck wegwerfen muss, den Ferdinand vor dem Großmarkt erbettelt? Ich habe als Kind nicht Geige gespielt, sondern im Wirtshaus meiner Eltern mitgeholfen. Was arbeiten bedeutet, weiß ich. Und die Milch, die du jeden Tag serviert bekommst, was glaubst du, wie viel Natron braucht es, damit sie sauer wieder schmeckt? Na, Fräulein? Wie viel?«
    Katharina kaute an ihren Fingernägeln und wusste nichts zu erwidern. Sanfter fuhr Sophie fort: »Es ist schon gut, Katharina. Ich wollte dir nur sagen, dass Ferdinand, dein Bruder und ich gerne einmal in deinem Buch lesen. Wenn wir den Winter überstanden haben. Vielleicht im nächsten Sommer.«
    Zusammenhanglos leierte Katharina ihr Gebet herunter, mit dem sie sich jeden Morgen zwang, die verklebten Augen zu öffnen: » Von uns wird erwartet, dass wir unsere Pflicht bis zum Äußersten erfüllen. Mit dem äußersten Fanatismus. Selbst die Kranken und Gebrechlichen müssen bis zum Aufgebot der letzten Kraft arbeiten .«
    »Katharina!«
    Sie ließ sich nicht beirren, nicht von einer wie Sophie: » Mehr kann ein Volk nicht tun, als dass jeder, der kämpfen kann, kämpft, und jeder, der arbeiten kann, arbeitet und alle gemeinsam opfern. «
    »Was redest du da?«, fragte Sophie bestürzt. »Woher hast du den Unfug?«
    »Aus der Zeitung. Ich habe es auswendig gelernt, damit es nicht vergessen wird. Der Krieg ist zu genießen. Schrecklich ist der Frieden .«
    Sophie zuckte mit den Schultern.
    »Wenn du meinst. Mir ist der Frieden lieber.«

39
    In der grau getünchten Dienststelle der Schutzpolizei waren die Rollläden halb heruntergelassen, um die Löcher in den Scheiben abzudecken. Durch die schmalen Ritze fiel das Licht der niedrig stehenden Herbstsonne auf Papierstapel.
    »Schauen Sie sich nur in aller Ruhe um«, ermunterte ihn der Schutzpolizist, der vorsichtshalber hinter seinem Stuhl stehen geblieben war. »Es ist gut, wenn ein amerikanischer Major mit eigenen Augen sieht, unter welchen Bedingungen wir unseren Dienst versehen. Niemand weiß, wozu wir das eigentlich sammeln. Ohne Staatsanwaltschaft.« Er deutete auf die Akten, die in dem Büro hüfthoch gestapelt waren. »Wenn man in diesen Zeiten nicht englisch spricht, hat man überhaupt keine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher