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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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zerbombt ist und das Geld nichts mehr wert und es überhaupt nirgends mehr Strümpfe zu kaufen gibt, höchstens solche, die sofort Laufmaschen bekommen, und wenn du auch die nur bekommst, wenn du dir vorher ein paar Zigaretten zusammengebettelt hast, dann«, sie holte zum ersten Mal Luft, »ist es mir persönlich lieber, wenn so ein Lügner zu mir sagt: ›Sie haben aber schöne Strümpfe an, Mademoiselle‹, obwohl ich gar keine anhabe, sondern mir nur mit einem Kohlestift einen schiefen Strich auf die Beine gemalt habe, und ich und er wissen, dass das so ist, und trotzdem sagt er’s, und ich werde rot dabei und gebe ihm einen Kuss. So schaut es nämlich aus, in Deutschland. Mir sind die Lügner inzwischen allemal lieber als diese wahrheitsliebenden Miesepeter.«
    Um sie herum hatten sich mehrere Frauen geschart, die Inges Tirade gefolgt waren und nach dem abschließenden Seufzer applaudierten. Inge und Ilse verbeugten sich und deuteten auf die andere Straßenseite. An der Mauer des alten Südfriedhofs torkelte ein junger Mann in weiten roten Hosen und einem monumentalen Hut entlang. Alle paar Schritte stützte er sich an den weiß gekalkten Ziegeln ab.
    »Da ist Georg, unsere Verbindung zur internationalen Hochfinanz! Der hat auf alle Fragen eine Antwort.«
    Inge überquerte die Straße und schleifte Georg zu Anne. Seine Pupillen waren unnatürlich geweitet. Er taumelte und ließ sich von seinen beiden Freundinnen eine Spur zu bereitwillig stützen. Ilse rüttelte ihn.
    »Meine Güte Georg, ist das Orakel ansprechbar? Was hast du wieder genommen? Sag uns, was ist besser, ein Held oder ein Verbrecher?«
    Das Orakel verdrehte die Augen, blies die Backen auf und legte den Kopf schief. Inge überbrückte die Zeit, bis er die Frage verarbeitet hatte, mit einer Erklärung:
    »Georg muss es wissen. Schließlich wollte er einmal Pfarrer werden und betreibt jetzt in der Möhlstraße das einzig florierende Gewerbe.«
    Georg öffnete langsam den Mund und räusperte sich. Mit unerwartet klarer Stimme begann er:
    »Ich aber sage euch: Ob einer ein Verbrecher ist oder ein Held, ist wurscht, selig sind, die arm sind im Geiste. Das Einzige, was heute zählt, ist, ob’s ein Amerikaner, ein Franzose oder ein Deutscher ist. Das zählt und sonst gar nix. Amen.« Er rülpste.
    Inge lachte. »Die großen Wahrheiten sind manchmal ganz einfach. Also, Anne, such dir einen Franzosen, wenn du mit den Amis durch bist, oder noch besser einen Engländer, das hat mehr Stil!«
    Inge und Ilse führten den taumelnden Georg weg, der abwechselnd nach links und nach rechts kippte und dabei am Busen seiner beiden kreischenden Freundinnen Halt suchte. Im selben Moment kam Bewegung in die Wartenden. Das Hauptportal schwang auf, und die Frauen strömten an Anne vorbei in das Arbeitsamt. In Gedanken versunken blieb sie alleine auf dem Bürgersteig zurück. Plötzlich strahlte sieübers ganze Gesicht und reckte sich, als würde sie gerade aus tiefem Schlaf erwachen.
    Auf der anderen Straßenseite zog ein Dackel eine alte Frau hinter sich her. Anne dachte an Paulas Hund, den sie im Juli erschießen mussten, weil er zu viel Blut verloren hatte. Sie hatte einen Entschluss gefasst: Ihre fixe Idee, ein Geschäft in München zu eröffnen, war Schwachsinn. Sie gehörte dahin, wo sie herkam. Aufs Land. Sie würde zurück zu Paula auf den Hof ziehen. Viel zu lange war sie den falschen Dingen hinterhergelaufen. Die Feldarbeit gäbe ihrem Leben wieder einen Sinn. Eine tiefe Ruhe erfüllte sie, eine lang ersehnte Gelassenheit. Ihr Leben lag endlich geordnet vor ihr. – Hastig lief sie der Alten nach und versperrte ihr den Weg.
    »Ich möchte Ihnen Ihren Hund abkaufen!«
    Verständnislos schüttelte die Frau den Kopf, während der Dackel Annes Bein beschnüffelte. Anne strahlte sie siegessicher an.
    »Ich biete Ihnen fünfzig Fahrradschläuche.«
    »Was soll ich mit fünfzig Fahrradschläuchen?«, wollte die alte Frau wissen. »Mein Hund ernährt mich mit. Zudem sind sie freundlich, unsere Befreier, der verhungert nicht, solang die Amis in der Stadt sind. Außerdem habe ich nicht einmal ein Fahrrad. Also gehen’s mir mit Ihren Schläuchen.«
    »Wissen Sie was«, Anne war sich plötzlich vollkommen sicher, »ich schenke Sie Ihnen, auch ohne Hund. Ich will damit nichts mehr zu tun haben.« Sie kicherte.
    »Sie sind ja verrückt!«
    Die Alte zerrte an der Leine und umrundete Anne in weitem Bogen. Bevor sie in die Kapuzinerstraße abbog, drehte sie sich noch einmal um

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