Der erste Sommer
insistierte sie ungeduldig. »Wir müssen uns beeilen mit den letzten Vorbereitungen.«
»Tut mir leid. Es gibt keine mehr.« Ferdinand setzte sich auf den Sessel vor dem Bett. »Vielleicht geht es auch mit Nähnadeln?«
Sie sah von ihrer Arbeit auf. »Warum besuchst du mich nicht mehr?«
Sein Gesicht war noch schmaler geworden. Er sah abgemagert aus, die Wangenknochen stachen heraus. Seine Hose hatte ein Loch auf der Höhe des Knies. Katharinas Augen sprühten Funken: Warum hatte er sich nicht für sie zurechtgemacht, wenn er sie nur alle paar Tage einmal besuchte? Sie hatte ein Anrecht auf einen gepflegten Besuch.
Vorsichtig nahm er ihr die Schere aus der Hand.
»Weißt du, was es in diesen Zeiten bedeutet, dich und Ewald und Sophie zu versorgen? Wie gut, dass die beiden Jungens, die wir im Sommer noch durchgefüttert haben, wieder bei ihren Eltern sind.«
»Du bist doch ein Räuber?« Katharinas Stimme klang unsicher.
»Wir sind aufgeflogen, die ganze Bande, schon im September.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du sprichst. Ich will auch nicht wissen, wen du wieder ausgeraubt hast. Versprich mir nur, keine Frauen und Kinder totzuschlagen. Ewald würde es nicht ertragen, wenn du ins Gefängnis kämst.«
Ferdinand sah aus dem Fenster in den diesigen Himmel. »Wahrscheinlich muss ich im Winter die Bäume im Garten fällen. Du ziehst zu uns ins Erdgeschoss, sobald du wieder gesund bist. Auf Dauer können wir nicht zwei Zimmer heizen.« Sie blickte ihn verständnislos an. »Du musst mehr essen. Sophie bemüht sich so, damit du nicht verhungerst. Es wäre schön, wenn du weniger biestig zu ihr wärst. Sie kocht nicht einmal schlecht, findest du nicht?«
»Was, sie kocht in meiner Küche?«
»Ach, lass doch dieses Spiel. Ich wusste von Anfang an, dass dieses Haus nicht euren Eltern gehört. Die Amis hatten es beschlagnahmt, aber Gott sei Dank haben sie es vergessen. Du hast mir leidgetan, als wir euch gefunden haben. Wie du so dagesessen bist mit deiner Geige. Ich habe mich verantwortlich gefühlt. Für dich und den Kleinen.«
»Ich habe dir also leidgetan.« Katharinas Stimme war kaum vernehmbar. Sie hielt den Kopf schief und schluckte mehrfach unter Schmerzen. Ferdinand nickte. »Das war es also. Mitleid, nichts weiter. Und mein Buch?« Sie räusperte sich und legte die Stirn in Falten. Ihre Stimme versagte fast. »Lieber Ferdinand, du hast schon wieder einen Pickel auf der Stirn. Der macht dich zehn Jahre jünger.« Sie senkte den Kopf.
»Ach, Katharina.«
Sie drehte sich von ihm weg und vergrub das Gesicht ins Kissen. Er blieb an ihrem Bett stehen. Bevor er ging, strich er ihr einmal übers Haar.
»Du musst mehr essen. Du siehst so krank aus. Ich mache mir furchtbare Sorgen. Wir können doch keinen Arzt holen, sonst fliegen wir aus dem Haus.«
»Damit es dann wieder heißt, ich würde euch nur auf der Tasche liegen«, schluchzte Katharina.
Ferdinand zuckte mit den Achseln. Beim Hinausgehen stolperte er fast über Ewald, der auf der Türschwelle sitzend gelauscht hatte.
»Komm ruhig rein und halte mich vom Arbeiten ab, kleiner Bruder«, forderte ihn seine Schwester auf, sobald Ferdinands Schritte auf der Treppe verklungen waren.
Ewald sah sie verständnislos an. »Aber du liegst doch den ganzen Tag im Bett.«
Kathrina stützte sich auf.
»Wer sagt, dass man im Bett nicht genauso gut arbeiten kann wie in der Praxis? Hat Sophie dir das in den Kopf gesetzt?Einer in der Familie muss schließlich das Geld verdienen. Meinst du, dass ich den ganzen Tag nur meine Kleider zähle? Ich arbeite hart, damit hier alle etwas zum Anziehen haben. Jetzt muss ich dich untersuchen, machen Sie bitte Ihren Oberkörper frei.«
»Nicht schon wieder«, seufzte Ewald und knallte einen goldenen Ehering auf die kleine Marmorplatte, die in die Konsole neben dem Bett eingelassen war. »Den kannst du Ferdinand schenken.«
»Wo hast du den her?«, fragte Katharina und nahm den Ring in die Hand.
»Von einem toten Mann im Park.«
Ewald sah zu Boden. Es wäre besser gewesen zu lügen. Nun würde sie ihm wieder erklären, dass man nicht stehlen darf. Seine Schwester hatte einfach keine Ahnung, was Männer wie Ferdinand und er zu tun hatten. Außerdem war der Greis, den er erfroren unter einem Baum gefunden hatte, uralt gewesen. Aber Katharina schimpfte nicht. Sie steckte den Ring nacheinander an alle zehn Finger. An keinem hielt er.
»Bring ihn zurück.«
Da er den Kopf schüttelte, warf sie den Ring achtlos in die
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