Der erste Sommer
uns angesichts des allgemeinen Zusammenbruchs, ohne den die Militärregierung, also noch vor dem Zusammenbruch –« In seiner Ansprache hatte er sich hoffnungslos verheddert. Einige Zuschauer klatschten ihm ermutigend zu, andere johlten, eine Frau zischte. »Kurz und gut, sobald die Elektrizität da ist, geht’s los.«
Mit hochrotem Kopf verschwand er hinter dem roten Vorhangneben der Leinwand, kam aber augenblicklich wieder hervor und lief durch den Zuschauerraum in seine Kabine. Die Gasbeleuchtung wurde schwächer.
»Hallo, Herr Doktor«, sagte Andras, der plötzlich vor Martin stand. Er wandte sich an Anne und begrüßte sie mit einem Nicken. Sie sah ihn forschend an. Die beiden kannten sich also doch.
»Es ist sonst kein Platz frei«, log Andras, »also setze ich mich neben dich, wenn es dir recht ist.« Er ließ sich neben Martin in den Sessel fallen. »Der Film soll in New York spielen.«
»Bleib ruhig sitzen, aber sei still.«
»Willst du uns nicht vorstellen?«, fragte Andras gepresst in das Gemurmel.
Martin hielt schweigend den Blick auf die Stelle gerichtet, wo der Vorführer eben noch gestanden hatte. Andras streckte über ihn hinweg Anne die Hand hin. Sie beugte sich neugierig vor und schüttelte sie.
»Ich bin die Anne.«
»Ich weiß«, erwiderte Andras leutselig, »Martin hat mir schon von Ihnen erzählt. Mein Name ist Andreas. Er hat mich gebeten, auf Sie aufzupassen.«
»Was fällt dir ein?«, brauste Anne auf und zog Martin am Ärmel. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
»Wollen wir uns nicht nach dem Film darüber unterhalten?« Martin lächelte Anne bittend an. Aber sein Grinsen wirkte nicht, davon ließ sie sich nicht mehr einwickeln.
»Waren Sie auch einer von denen, wie Martin?«, fragte sie Andras über diesen hinweg.
»Nein, ich habe dort nur gearbeitet. Gut gearbeitet.«
»Es hat Ihnen also auch noch Freude gemacht als Werwolf?« Annes Stimme bebte vor Wut.
»Freude ist nicht das richtige Wort. Ich habe es gerne gemacht. Und die Arbeit musste getan werden.«
»Wen haben Sie erhängt?«
Andras stotterte zu Martin gewandt: »Hast du behauptet, ich hätte jemanden umgebracht?«
»Im Schatten des Zweifels«, schaltete Martin sich ein. »Hitchcock heißt der Regisseur. Den Namen solltet ihr euch merken. Wollt ihr wissen, wie der Film ausgeht? Charlie wird von seiner Nichte verdächtigt, ein Witwenmörder zu sein. Völlig zu Recht. Aber dummerweise hat sie sich in ihn verliebt. Also muss er sie sich vom Hals schaffen. Dumm nur, dass er am Ende vom Zug stürzt und umkommt. Wenigstens bekommt er ein feierliches Begräbnis.«
Anne und Andras blickten ihn verständnislos an. Martin stand auf.
»Ich muss den Film kein zweites Mal sehen. Weißt du, Anne, die Wahrheit ist: Ich habe ihn bereits gesehen, und zwar in New York.« Das Licht ging flackernd aus. Der Projektor surrte laut. »Andras, du passt heute Abend auf Anne auf.«
Martins Schatten wurde mit scharfen Umrissen auf die Leinwand geworfen. Geduckt verließ er den Kinosaal. Anne und Andras folgten ihm. Draußen sahen sie ihn gerade noch, als er mit dem Fahrrad Richtung Bavaria davonfuhr. Sie musterten sich. Es gab viel zu erzählen über die beiden Martins.
Stunden später stand für Anne eines fest: Noch nie im Leben war sie von einem Menschen so hintergangen worden wie von diesem Mann ohne Vergangenheit.
Oktober
37
Frierend und mit verschränkten Armen standen vor dem Arbeitsamt in der Thalkirchner Straße über vierhundert Frauen, deren Nachnamen mit A, B, C, D oder E begannen. Sie sollten sich mit ihren Kennkarten zur Registrierung melden, um zu erfahren, wann und in welchen Abständen sie sich das nächste Mal zu melden hätten. Was für ein Glück, dass die Arbeitsämter die Lage wieder im Griff hatten, dachten manche Frauen mit bitterer Ironie.
Ilse und Inge quietschten entzückt auf, als sie Anne in ihrem abgetragenen schwarzen Mantel in der Schlange entdeckten. Zur Verärgerung der Wartenden drängelten sich die beiden zu ihr durch. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung im August wirkten sie wie verkleidet. Ihre Lockenwickler und die Pantoffeln waren an dem trüben Herbstmorgen allerdings zu viel. Als ob sie sich über die anderen Hausfrauen lustig machen wollten.
»Schätzchen!«, rief Inge, »warum hast du uns den ganzen Sommer alleine Marken kleben lassen?«
»Seid doch leiser«, bat Anne, »was soll man von mir denken?«
»Im Schwimmbad mit den ganzen Jungens war dir das auch egal«, tat Ilse
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