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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Schublade der Konsole. Ewald fuhr auf der Bettdecke mit dem Finger die Wege nach, die er heute gelaufen war. An der Stelle, an der er die Leiche gefunden hatte, hielt er inne.
    »Mir ist langweilig.«
    »Du solltest schon lange in der Schule sein«, herrschte sie ihn an. »Sei ein lieber Junge und fall mir nicht auf die Nerven. Mir tut alles weh.« Ihr Blick war flehentlich. Sie wickelte ihrem Bruder eine schmutzige Mullbinde um den Kopf.
    »Ich war ja dort. Alle wollen wissen, wo Mama und Papa sind. Ich gehe da nicht mehr hin. Kommt Papa als Russe wieder? Einer hat gesagt, dass die Russen alle Frauen wegschleppen.«
    »Du sagst den Schädlingen, dass unsere Eltern im Kampf fürs Vaterland gefallen sind. Und dass deine Schwester ein Lazarett unterhält, aber nicht für die Yankees. Untersteh dich zu sagen, wo wir wohnen. Du weißt, dass mir sonst der Kopf abgeschnitten wird bei lebendigem Leib. Und dir auch.«
    Ewald fasste sich erschrocken an den Hals. Mit einem Ruck riss er sich den Verband vom Kopf. Sofort nahm ihm Katharina den Mull aus der Hand und wickelte ihn um ihren Zeigefinger auf.
    »Und verrate um Gottes willen nicht deinen Namen, sag, dass du Ashley heißt. Ashley O’Hara ist dein Name, verstanden? Alles andere geht niemanden etwas an.«
    »Äschli ist ein blöder Name.«
    Katharina fuhr wütend auf. Auf der Konsole stand eine Porzellantasse mit eingetrocknetem Teerand. Sie griff danach und schmiss sie über Ewalds Kopf an die Wand.
    »Ausgemerzt gehörst du aus dem Volkskörper!«
    Ewald ließ sich auf den Teppich sinken und kroch zur Tür. Ferdinand hatte ihm gezeigt, wie man mit der Handgranate umging. Wenn Katharina nicht aufhörte, ihn so zu schikanieren, würde er sie und die ganze Stadt in die Luft jagen, auf einen Schlag.
    »Petz ruhig alles, wenn du ein Feigling wie dein Vater werden willst!«, rief Katharina ihm nach.
     
    Fünf Minuten später hörte sie Schritte auf der Treppe. Warum ließ man sie heute nicht in Ruhe? Mit einem Tablett schob Sophie die Tür auf. In den Hosen und den beiden übereinandergezogenen Strickjacken sah sie aus wie ein Junge. Nur ihr hüftlanger, blonder Zopf erinnerte an ein Mädchen. Wie der Schwanz eines Pferdes, dachte Katharina verächtlich.
    Auf dem Tablett stand eine Schüssel, bis zum Rand voll mit einer dampfenden Suppe. Daneben lagen zwei Scheibentrockenes Brot. Sophie stellte es wortlos auf das Grammophon. Katharina zuckte zusammen. Sie öffnete den Mund, um sich über die mangelnden Manieren zu beschweren, aber es kam kein Laut heraus. Eilig ging Sophie wieder.
    Katharina sah auf den Suppenteller. Wie viel Mühe sie sich mit ihr gaben. Ob sie das auch täten, wenn sie die Wahrheit wüssten? Sie schwor sich, dass alle drei – Ferdinand, Sophie, vor allem aber ihr Bruder – nie erfahren dürften, wer sie wirklich war.

41
    Martin blickte an dem grauen Gebäude in der Maximilianstraße hoch. Aus dieser Perspektive sah das Nationaltheater völlig unversehrt aus. In diesem Moment öffnete sich vor ihm eine Tür, und eine Frau mit Hut und zugeknöpftem Mantel trat neben ihn auf die Straße, um nach der Trambahn Ausschau zu halten.
    »Entschuldigen Sie«, sprach Martin sie an, »wird in der Oper wieder gespielt?«
    »Sie sind nicht von hier, oder? Das weiß man doch. Wir spielen übergangsweise im Prinzregententheater. Die Münchner sind ganz verrückt nach Musik und den schönen Dingen. Um Karten zu betteln bringt bei mir aber gar nichts. Wir Sänger sind da eisern«, erklärte die Frau schnippisch.
    »Mit Verlaub, ich möchte einen Film drehen über eine Kollegin.«
    »Ach so. Das ist etwas anderes. Das sehen wir natürlich gern, wenn über uns berichtet wird. Zweiter Stock, rechter Gang.« Sie deutete auf die Bühnenpforte. »Halt!«, hielt sie ihn zurück. »Von den Herrschaften ist keiner mehr da. VersuchenSie es beim Doktor Schwartz, unserem besten Korrepetitor. Der weiß alles, wer was wann gesungen hat. Im dritten Stock, rechts den Gang runter, die letzte Tür auf der rechten Seite. Ohne den Herrn Doktor Schwartz wäre die Münchner Oper nicht eine Oper von Weltrang. Sagt man so.«
    Die abbremsende Straßenbahn unterbrach ihren Redefluss. Martin war ihr beim Einsteigen behilflich. Als er auf die Straße zurücksprang, rief sie ihm noch hinterher:
    »Schwartz ist sein Name. Wie die Königin der Nacht. Und vergessen Sie den Doktor nicht. Toi, toi, toi!«
     
    Dr.   Schwartz hatte keine Zeit. Eigentlich. Dennoch winkte er Martin mit einer herablassenden

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